Auftauchen in der Hafenstadt

Dann flattert, an einem Dienstag, ein Buch in den Briefkasten des nach Basel ausgewanderten Rorschachers. Absender ist der Appenzeller Verlag, der Autor heisst Otmar Elsener, der Titel lautet «Rorschach.

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Unweigerlich wieder im Ohr: Das Krächzen des Roco-Vogels, gezeichnet von Alois Carigiet (1926).

Unweigerlich wieder im Ohr: Das Krächzen des Roco-Vogels, gezeichnet von Alois Carigiet (1926).

Dann flattert, an einem Dienstag, ein Buch in den Briefkasten des nach Basel ausgewanderten Rorschachers. Absender ist der Appenzeller Verlag, der Autor heisst Otmar Elsener, der Titel lautet «Rorschach. Geschichten aus der Hafenstadt», und klar, runde 270 Seiten Buch flattern nicht, sondern setzen sich geziemlich und gediegen in den Briefkasten.

Die Lektüre – und jede Lektüre ist eine Reise – die Reise also hinein in die Geschichten, und in der Einleitung taucht das Jorge- Semprun-Motto auf: «Ohne Literatur stirbt die Erinnerung.» Das Buch, und die Erinnerung stirbt keineswegs, im Gegenteil, sofort wird sie in Gang gesetzt, die Erinnerungsmaschine, rasend schnell, unausweichlich und ein Knopf, um die Maschine zu stoppen, ist nicht zu finden.

Eigenes Leben erzählen

Es ist so eine Sache mit der Erinnerung – beladen, bedrückend, abgründig, verschwommen, schlicht schön, gefährlich, diffus, schneidend…

Also, Lektüre, ich schwimme quasi rheinaufwärts (gelange hoffentlich an den Ort meiner Sehnsucht, die Badhütte), schnappe nach Luft, das grünkalte Wasser, tauche auf, der See, die kleine Stadt, Geschichten.

Auf – tauchen, ja, ich muss mich im Zaume halten, hocke wieder beim Schuster Blumenstein und der Leimgeruch fächert, beichte bei Kaplan Kobler und leiere meine Vaterunser herunter, arbeite als 14-Jähriger an der Karotten-Sortiermaschine in der Roco, stülpe dem sandsteinigen heiligen Jakob, der hoch über dem Brunnen steht, 15jährig und sehr betrunken, eine Lederkappe über den Kopf, hocke vor allem im «Eden» und im «Palace» und im «Rex»…

In den Sinn kommt mir Peter Bichsel: «Ich glaube, der Sinn der Literatur liegt nicht darin, dass Inhalte vermittelt werden, sondern darin, dass das Erzählen aufrechterhalten wird. Weil die Menschen Geschichten brauchen, um überleben zu können. Sie brauchen Modelle, mit denen sie sich ihr eigenes Leben erzählen können. Nur das Leben, das man sich selbst erzählen kann, ist ein sinnvolles Leben.»

Fabrikgestank und Steilhang

Das eigene Leben erzählen, und nie wird der Geruch oder Gestank der Feldmühle, der Geruch des Pestalozzi-Rasens je aus meinen Geruchsnerven verschwinden. Ein Leben lang wird mich die Schwebende mit ihrer Schwebigkeit begleiten, immer wieder werde ich beim Rossbüchel auf meinen Skiern in den endlosen Steilhang gleiten, und, lese ich die Geschichte über die Roco-Conserven im Buch, höre ich sofort, unweigerlich, penetrant, den Roco-Vogel «Rrrrroco» krächzen.

Ein Buch voller Geschichten, auch solchen, die kein unmittelbares Erinnern auslösen, solche, die viel weiter zurückliegen, die aber den Boden, den (Sandstein-)Grund, oder, um es pathetisch zu sagen, die Heimat erweitern. Natürlich donnert der P-16 wieder über den See, natürlich taucht sie wieder auf, die Jugendliebe, die ins Stella Maris ging, und jedes Mal, wenn eine schwarzgewandete Schwester, ein «Kohlensack» auftauchte, galt es blitzschnell die Hände zu lösen.

Erinnerungsmaschine

Otmar Elseners Geschichten als Erinnerungsmaschine. Er breitet sie aus, trägt und fügt das Material zusammen. Hätte sich meiner Meinung nach öfters einbringen dürfen. Nicht nur im Schlusskapitel, wo er dreimal auftaucht.

Wieder dieses Auftauchen. Die Vergangenheit taucht auf. Natürlich auch auf den Fotos, und von diesen dürfte es ruhig noch mehr haben. Fotos sind Erinnerungsverstärker oder Erinnerungsversicherer. Oder verleiten zu detektivischer Spurensuche.

Spurensuche. Ein gewichtiges Wort. Rorschach, Lokalgeschichte, die immer verflochten mit der grossen Welt ist (der Stickereikrise, dem Zweiten Weltkrieg). Dieselbe Frage, die sich für den einzelnen wie für das kleine Gemeinwesen stellt: Woher kommen wir? Wohin gehen wir?

Das kulturelle Kapital

Zusammenfassend: Eine vorzügliche Arbeit. Material, um uns über unsere Herkunft klarer zu werden, die Zukunft bewusster in die Hand zu nehmen.

Zu viel Nostalgie? Nein. Natürlich ist die Vergangenheit immer mit Trauer verbunden. Gebäude verschwinden (dieser Schock, als bei meinem letzten Besuch das Haus von Velo Giger einfach nicht mehr da stand), der FC Rorschach stieg ab, die Dampfschiffe sind schon lange verschwunden, all die Toten…

Ein Buch als Erinnerungsmaschine. Nichts für die Jungen, die Neuzuzüger, die eben Eingewanderten? Mitnichten. Geschichten, die ihnen erzählen, wo sie geboren wurden oder gelandet oder gestrandet sind, Geschichten, die es ihnen erlauben, einen Döner oder eine Bratwurst kauend, mitzubekommen, was für Menschen hier gelebt, gewirkt, geschuftet, gebaut, gevögelt haben und gestorben sind.

Oder, um es mit dem Soziologen Pierre Bourdieu zu sagen, Geschichten, die das kulturelle Kapital eines Ortes, einer kleinen Stadt am See, verkörpern.

Alois Bischof

Otmar Elsener: «Rorschach – Geschichten aus der Hafenstadt». Appenzeller Verlag, Herisau 2011. Fr. 38.– www.appenzellerverlag.ch; www.rorschachbuch.ch