Zeit + Ort = Termin? – Falsch!

Der Jahresanfang ist die Zeit der neuen Agenda. Einfache Taschenagenda, Poesie-Agenda, Kunst-Agenda, elektronische Agenda? Oder reicht der eigene Kopf zur Planung der kommenden Wochen und Monate? Die Gleichung des Titels ist unvollständig, ja falsch. Die Frage lautet: Was fehlt?

Guido Berlinger-Bolt
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Die Agenda13 der beiden Ausserrhoder Künstlerinnen Sarah Graf und Eva Rekade. Zeit und Ort verschmelzen. (Bild: pd)

Die Agenda13 der beiden Ausserrhoder Künstlerinnen Sarah Graf und Eva Rekade. Zeit und Ort verschmelzen. (Bild: pd)

Die Agenda ist mein auf den Kopf gestelltes Alibi. Das Alibi ist ein Abwesenheitsbeweis. Die Agenda ist der Beweis meiner Anwesenheit. Ich habe Termine – ergo sum, also bin ich.

Zum Jahreswechsel kauft man sich eine neue Agenda und mit ihr ein neues Jahr. Und das alte, in Form der letztjährigen Agenda, wird weggeworfen.

Was für ein Tag

Doch plötzlich zögern wir einen Augenblick lang: Die Finger wollen den Griff nicht so ohne weiteres lösen, halten die zerfledderte und voll gekritzelte Agenda eine kurzen Moment lang über dem Abfalleimer. Erinnerungen an das letzte Jahr, an Treffen, Aufträge, Ferien, Prüfungen, an eine Hochzeit vielleicht, an eine Geburt oder einen Tod?

Was war der 13. Juli 2012 für ein Tag?

Wen traf ich am 6. Mai 2012?

Was trug ich am 20. August ein? Wir lesen Namen von Menschen, von Orten, von Firmen, von Feriendestinationen. Und wir lesen Daten: Uhrzeiten, Tage, Monate. Wir lesen in der eigenen Agenda wie in einem persönlichen Geschichtsbuch, merken wir. Der Termin als knappste mögliche Fassung von Ereignissen, von Erlebtem. Wir lesen unser Lebensbuch des vergangenen Jahres und wir schaffen es wohl deshalb nicht ohne Zögern, dieses Bündel Seiten dünnen Papiers in den Eimer fallen zu lassen. Aber wir wollen nicht zu sentimental werden! Die Welt dreht sich weiter und wir uns mit ihr. Eine neue Agenda muss her. Weiss, blank, unschuldig. Oder kühl, nüchtern: elektronisch. Denn wer trägt heute noch eine analoge, papierene Agenda nach?

Formen des Zeitmanagements

I.

Die meisten der jüngeren Zeitgenossinnen und -genossen verwalten ihre Termine über das Smartphone, sie managen ihre Zeit digital. Das Zögern überm Abfalleimer kennen sie damit freilich nicht. Die Zeit verläuft für diese User absolut linear, sie läuft und verrinnt, schreitet vorwärts und vorwärts. Wo ein Tag auf den nächsten folgt, ein Monat auf den andern, ein Jahr aufs andere, gibt es keine Brüche oder Übergänge, nur eine unendliche Folge in der immergleichen Benutzeroberfläche. Momente des Innehaltens und des Zurückblickens sind mit einem digitalen Zeitmanagement selten geworden. Es reichen Schnittstellen, Übertragung und Synchronisierung. Die Ironie dabei: Das Wort «synchron» bedeutet nichts anderes als «gleichzeitig» – das Synchronisieren des Smartphones mit dem PC also «Vergleichzeitlichung». Ausgerechnet «Synchronisieren» – in diesem Medium, das nur die eine gleichmässig Bewegung kennt: vorwärts.

So scrollt man durchs Jahr.

II.

Für jene, die noch immer durchs Jahr blättern, gibt es ganz unterschiedliche Agenden neben der hundskommunen aus der Papeterie oder dem Werbegeschenk.

Etwa die Poesie-Agenda aus dem Orte-Verlag in Oberegg. Auf 256 Seiten bietet Werner Bucher nicht nur einen Kalender, sondern liefert gleich noch ein Adressbuch, Fotos, Cartoons und Literatur mit. Mit Gedichten durch den Alltag – eine gänzlich andere «Nutzung» der Zeit als mit dem digitalen Management, man ahnt's. Zeit eher als Gelegenheit für Texte, für die Reflexion, für Einsichten. Das erhöht den Wert der einzelnen Seiten und damit die Chance, dass sie ein zweites, drittes, viele Male betrachtet und gelesen werden. Man nimmt sich eher Zeit zurückzublicken, Zeit, die dadurch stillstehen kann, rückwärtsgehen kann. Deshalb: Zeit für Einsichten.

Oder für Ansichten: Die beiden Ausserrhoder Exilkünstlerinnen Sarah Graf (heute Basel, vormals Herisau) und Eva Rekade (heute Bern, vormals Speicher) gestalteten und illustrierten zum drittenmal eine Kunst-Agenda, die Agenda13 (Bild oben). Dies jeweils mit einem starken künstlerischen Verweis auf das Appenzellerland: Der Schutzumschlag ist ein Poster und in der Buchmitte hat es Platz für eine Bildstrecke. Beide Male ist der Säntis das Sujet. «Für uns», schreiben die beiden Künstlerinnen, «ist sein Anblick ein Stück <Heimat>, welches wir umso mehr wahrnehmen, seit es nicht mehr täglich präsent ist.» Graf und Rekade rücken also die Heimat, den Raum an die Zeit, in der die Besitzerin, der Besitzer der Agenda13 lebt. Und zeigen damit das Programm einer Agenda: Zeit und Ort auf einen Punkt zu bringen.

Und schliesslich nehmen manche einen Blindband, ein Buch mit leeren Seiten, und gestalten eine persönliche Agenda – für sich oder für eine Freundin, einen Freund. Die gemeinsam verbrachte Zeit erhält mit diesem Geschenk eine neue Qualität.

III.

Jeden Tag präsent haben: Es gibt Menschen, die das schaffen, meine Frau zum Beispiel. Sie trägt die Agenda höchst zuverlässig im Kopf. Ich bewundere sie dafür.

IV.

Und es gibt Menschen, die tragen die Agenda im Herzen: Sie nehmen jeden Tag wie er kommt, das Leben ergibt sich einfach so, ohne grosse Planung. Eine Spur Gleichgültigkeit der Zeit gegenüber ist dieser Form von Agenda eingeschrieben (dies ist nicht abschätzig gemeint). Sie werden ihn dereinst nicht haben, den Beweis für die eigene Anwesenheit. Und sie haben ihn wohl auch nicht nötig. Man geht mit der Zeit. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Natürlich beweist eine Fülle an Terminen in der persönlichen Agenda noch gar nichts. Und sicher nichts sagen sie über die Qualität des Lebens aus.

Beisammen

Die Agenda ist mein auf den Kopf gestelltes Alibi. Sie ist der Beweis meiner Anwesenheit in der Welt. Ich habe Termine – also bin ich?

Gottfried Wilhelm Leibniz, zwischen 1690 und 1716 übrigens Bibliothekar von Beruf, dachte Raum und Zeit als eine Ordnung, als eine Struktur; Zeit und Raum bezögen ihre wahrhafte Objektivität nicht aus irgendeiner absoluten Wirklichkeit, sondern aus Relationen. Leibniz' Definition des Raums: «Die Möglichkeit des Beisammen». In dieser Weise zitiert ihn Ernst Cassirer in seinem Werk «Raumtheorie».

Zeit + Ort

In der persönlichen Agenda verschränken sich Raum und Zeit. An den präzisen Verbindungen von knapp notierten Zeitpunkten und Orten. Damit erhalten wir Anhaltspunkte für die eigenen Lebensstationen, möglicherweise bald eine Kette von Stationen. Es lassen sich über kurz oder lang Muster herauslesen, ein Rhythmus des Lebens: «Jeden Donnerstag: Squash mit dem Freund.» – «Jeden letzten Samstag des Monats: Orchesterprobe.» Wir erhalten mit der Agenda sozusagen eine Wegbeschreibung des eigenen Lebens. Die Agenda als Termin-Sammlung wird zum Geschichtsbuch der eigenen Biographie, sie wird zum (radikal knapp gehaltenen) Tagebuch, zum Erinnerungsbuch.

Zeit + Ort + Sein

Die Agenda als Termin-Sammlung verschränkt aber immer auch mich mit dem Andern. Mit wem ich mich treffe, ist ebenso entscheidend, wie die Angabe von Zeit und Ort. Wie schreiben doch Sarah Graf und Eva Rekade: Der Anblick des Säntis' sei ein Stück «Heimat», welches sie umso stärker wahrnehmen, seit es nicht mehr täglich präsent sei. Auch was Wochen und Monate zurückliegt, ist uns in vielen Fällen nicht mehr präsent, kann verschüttet liegen. «Die Zeit vergeht so rasch!», hört man Menschen ausrufen. Sie haben recht. Aber in unserer Erkundung und in unserer Erschliessung der Welt haben wir Zeugen, wir haben Komplizen, Mitstreiter, aber auch Gegner. Jene, mit denen wir uns treffen, die uns einen Eintrag in der Agenda wert sind.

Die Agenda beweist uns: Wir sind eingebunden, keine Passivmitglieder in der Gesellschaft. Die Angabe von Zeit und Ort reicht indessen nicht aus für einen Termin. Die Gleichung muss lauten: Termin = Zeit + Ort + Sein. Sein: Das sind wir, ich und du, die wir uns treffen und zusammen sind und gemeinsame Sache machen. Die Agenda ist deshalb ein schönes Büchlein, weil es mir das zeigt: Ich bin nicht allein.