Ryoyu Kobayashi steuert auf seinen zweiten Gesamtsieg der Vierschanzentournee zu – zum Leidwesen Deutschlands, das sehnsüchtig auf einen Triumph wartet. Die Schweiz darf mit dem Tournee-Auftakt derweil zufrieden sein. Eine Halbzeitbilanz.
Seit nunmehr 20 Jahren wartet die grosse Skisprung-Nation Deutschland sehnlichst auf einen Triumph bei der Vierschanzentournee. 2002 hatte Sven Hannawald die Konkurrenz deklassiert, als erster Springer an allen vier Stationen triumphiert – doch seither ist der grosse Wurf immer ausgeblieben, obschon Deutschland sonst recht zuverlässig an der Weltspitze mitmischt.
Ein Ende dieser fatalen Durststrecke ist auch bei der laufenden Ausgabe nicht abzusehen. Karl Geiger, der als Leader im Gesamtweltcup in die prestigeträchtige Tournee gegangen war, kam bei den ersten Stationen Oberstdorf und Garmisch-Partenkirchen nicht über die Ränge fünf und acht hinaus. Ihm wurden allerdings auch diffizile Windverhältnisse zum Verhängnis.
Markus Eisenbichler, zweites deutsches Eisen im Feuer, liess in Garmisch-Partenkirchen mit einem Satz auf 143,5 Meter, dem weitesten Sprung des Tages, sein ungeheures Können aufblitzen und reihte sich mit nur 0,2 Punkten Rückstand auf Platz zwei ein. Dass der Oberbayer beim Auftaktspringen in Oberstdorf lediglich auf den siebten Rang kam und sich dabei einen beträchtlichen Rückstand von rund 20 Zählern im Gesamtklassement einhandelte, verweist auf seine Achillesferse: seine zuweilen fehlende Beständigkeit.
Dabei ist ebenjene Konstanz eine unerlässliche Grundvoraussetzung, um an der berüchtigten Vierschanzentournee bestehen zu können. Dessen ist sich Ryoyu Kobayashi bestens bewusst – immerhin stand der Japaner im Weltcup schon überall ganz oben, auch bei der Tournee, deren vier Springen er in der Saison 2018/19 allesamt souverän für sich entschieden hatte. In dieser Saison befindet er sich auf bestem Wege, dieses Kunststück zu reproduzieren.
Dabei hatte sich der 25-jährige Überflieger zu Beginn der Saison noch mit profanen Problemen herumschlagen müssen. Ende November, unmittelbar nach seinem Saison-Auftaktsieg im finnischen Kuusamo, wurde Kobayashi positiv auf Corona getestet, liess sich aber offenbar weder vom Virus noch von der zehntägigen Quarantäne aus der Bahn werfen. Es folgten Siege in Klingenthal, Engelberg – und nun eben in Oberstdorf und Garmisch-Partenkirchen.
Dass sich der formstabile Weitenjäger den Tournee-Triumph jetzt noch nehmen lässt, scheint mithin unwahrscheinlich. Unmöglich ist es gleichwohl nicht: Die dritte Station Innsbruck gilt als das wohl anspruchsvollste und unberechenbarste Springen der Tournee, die Bergiselschanze machte schon oft mit unwägbaren und schwierigen Windbedingungen auf sich aufmerksam. Ohnehin kann nur ein Fauxpas genügen, um alle Hoffnungen zunichtezumachen.
Aus Schweizer Sicht darf die Vierschanzentournee bis anhin als Erfolg verbucht werden, wiewohl der insgeheim erhoffte Exploit von Killian Peier bisher ausgeblieben ist. Der Waadtländer, der bei der Generalprobe in Engelberg das Podium zweimal hauchdünn verpasst hatte, sprang auf die Plätze 14 und zwölf, die Top Ten ist an den beiden Stationen Innsbruck und Bischofshofen in Sichtweite. Im Tournee-Klassement weilt er auf einem insgesamt zufriedenstellenden zwölften Zwischenrang.
Auch Gregor Deschwanden gelang zweimal der Einzug in den zweiten Durchgang, in Oberstdorf überzeugte er gar als Zehnter. Und Altstar Simon Ammann glückte beim Auftaktspringen nebenbei die Qualifikation für seine dann siebten Olympischen Winterspiele: Durch seinen 13. Platz in Oberstdorf ist er auch in Peking mit von der Partie.
Einen beispiellosen Absturz legte indes die polnische Equipe hin, die schon seit Saisonbeginn mit einer kollektiven Krise zu kämpfen hat. Stellte das skisprungbegeisterte Land im vergangenen Jahr noch vier Athleten unter den besten Sechs der Tourneewertung, ist die Weltspitze nun plötzlich in weite Ferne gerückt. Symptomatisch für die Malaise: Vorjahressieger Kamil Stoch, ein Volksheld in der Heimat, verpasste gleich zweimal den zweiten Durchgang.
1. Ryoyu Kobayashi (Japan; 593,2 Punkte)
2. Marius Lindvik (Norwegen; 580 Punkte)
3. Lovro Kos (Slowenien; 575,5 Punkte)
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12. Killian Peier (518,6 Punkte)
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14. Gregor Deschwanden (508,5 Punkte)
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23. Simon Ammann (376,5 Punkte)