Studie der Uni Basel
Psychiatrische Kliniken Graubünden: Zwangseinweisungen gehörten bis Ende 70er-Jahre dazu

Bis 1980 waren im Kanton Graubünden fürsorgerische Zwangsmassnahmen an der Tagesordnung. Versuche mit Medikamenten spielten dabei eine untergeordnete Rolle.

Alice Guldimann
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Die psychiatrische Anstalt Waldhaus als Postkarten-Motiv.

Die psychiatrische Anstalt Waldhaus als Postkarten-Motiv.

© Verwaltungsarchiv Waldhaus

Immer wieder wird die Bündner Psychiatrie im Zusammenhang mit Zwangsmassnahmen und Medikamentenversuchen erwähnt. Weil fundierte wissenschaftliche Untersuchungen dazu bislang jedoch fehlten, liess der Kanton seine Psychiatriegeschichte wissenschaftlich aufarbeiten. Am Montag nun wurden dazu die Studienergebnisse der Universität Basel den Medien präsentiert.

Konkret geht es um die beiden Kliniken Waldhaus in Chur und Beverin in Cazis. Bis 1980 erfolgten gemäss der Studie ein Drittel bis die Hälfte der Einweisungen unter Zwang. Fürsorgerische Zwangsmassnahmen betrafen häufig Fälle von Alkohol- oder Drogenmissbrauch, später auch von Selbstgefährdung, wie es in einer Zusammenfassung der Studienergebnisse heisst. Durch die multifunktionale Anstalt Realta bei Cazis bestand eine «besonders enge Beziehung zwischen fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Psychiatrie».

Medikamentenversuche kamen nur vereinzelt vor

Was Medikamentenversuche betrifft, ordnet die Basler Studie den Bündner Kliniken derweil keine prominente Rolle zu. Versuche mit noch nicht zugelassenen Medikamenten fanden gemäss der Studie zwar statt, vermutlich aber eher vereinzelt. Dabei deute vieles darauf hin, dass bis in die 60er-Jahre die keine systematische Einwilligung der Patienten eingeholt wurde.

Auch eugenisch begründete medizinische Eingriffe wie Sterilisationen oder Kastrationen wurden laut der Studie im Kanton Graubünden «nicht häufiger» vorgenommen als in anderen Kantonen. Als Sonderfall führen die Autoren die Kastration von Sexualstraftätern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf, die in der Anstalt Realta ihre Strafe absassen.

Reformen ab den 1960er-Jahren

Bis 1970 wurden demnach «weit über hundert» Insassen kastriert, dies primär auf operativem Weg. Die meisten Eingriffe seien nach einer Absprache zwischen Richtern, Psychiatern und Betroffenen erfolgt. Letztere hätten damit eine Milderung des Strafmasses erwirken können.

Ab den 1960er-Jahren wurden gemäss der Studienergebnisse «nachhaltige Reformen» In die Wege geleitet. So hätten die Bündner Kliniken spezialisierte Angebote für unterschiedliche Patientengruppen wie Kinder und Jugendliche oder Menschen mit Behinderungen entwickelt. Zudem sei die Stellung der Pflege Klinik-intern aufgewertet worden. In der jüngsten Vergangenheit habe es zudem verstärkte Bestrebungen für eine kritische Selbstreflexion gegeben, auch zum Verständnis der gesellschaftlichen Rolle der Psychiatrie.