Beziehungen zur EU
Verhandlungen mit EU gescheitert: Bundesrat beerdigt Rahmenabkommen

Nach jahrelangem Zaudern hat der Bundesrat endlich Klarheit geschaffen: Er wird das Rahmenabkommen nicht unterzeichnen. Um eine Eskalation mit der EU zu verhindern, setzt er auf einen Plan B. Dennoch droht nun eine neue Eiszeit in den bilateralen Beziehungen.

Reto Wattenhofer
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Langwierige Suche für einen Kompromiss: Bereits seit 2014 dauern die Verhandlungen zwischen der EU und der Schweiz.

Langwierige Suche für einen Kompromiss: Bereits seit 2014 dauern die Verhandlungen zwischen der EU und der Schweiz.

Keystone

Was lange währt, wird endlich gut. Zumindest im Fall des institutionellen Rahmenabkommens mit der Europäischen Union stimmt das nicht. Zutreffender wäre: Dort war von Beginn an der Wurm drin. Was sich schon länger abgezeichnete, hat sich nun bewahrheitet. Der Bundesrat hat am Mittwoch beschlossen, seine Unterschrift nicht unter den Vertrag zu setzen.

Er habe heute EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Mittwoch schriftlich über diesen Entscheid informiert, erklärte Bundespräsidentin Guy Parmelin vor den Medien in Bern. Dennoch bleibe die Schweiz eine zuverlässige und verlässliche Partnerin der EU. Auch Aussenminister Ignazio Cassis versicherte: «Es ist das Ende eines Weges, aber nicht das Ende des bilateralen Weges.»

Paradigmenwechsel bei Zuwanderung

Nach Ansicht des Bundesrates bestehen in zentralen Bereichen weiterhin «substanzielle Differenzen». Aussenminister Ignazio Cassis verwies auf das Verständnis des Begriffs Freizügigkeit. Für die Schweiz müssten zuziehende EU-Bürger über ausreichende Mittel verfügen. Bei Unionsbürgerrichtlinie wolle die EU weiter gehen. Das Recht auf Daueraufenthalt oder Sozialhilfe käme einem Paradigmenwechsel gleich bei der hierzulande «breit akzeptierten Zuwanderungspolitik», betonte Cassis.

Unterschiedliche Auffassungen bestanden auch beim Lohnschutz. In der Theorie gehe es beiden Seiten um dasselbe, so Cassis. «Gleicher Lohn für gleiche Arbeit.» Allerdings habe die EU der Schweiz nicht den vollumfänglichen Schutz der flankierenden Massnahmen zugesichert. Eine mögliche Einigung hat sich laut Cassis bei den staatlichen Beihilfen abgezeichnet.

Damit ist der Bundesrat nicht viel weiter als im Juli 2019. Damals stellte er klar: Ohne Korrekturen wird er das Abkommen nicht unterzeichnen. Aussenminister Cassis erklärte, die Schweiz habe zu Verhandlungsbeginn bereits Zugeständnisse gemacht – wie die dynamische Rechtsübernahme oder den Einbezug des Europäischen Gerichtshofes bei Streitigkeiten.

Letzter Rettungsversuch scheitert

Nicht die Kastanien aus dem Feuer holen konnte auch die versierte Diplomatin Livia Leu. Letzten Herbst hatte der Bundesrat entschieden, in den verkorksten Verhandlungen auf die neue Chefunterhändlerin zu setzen. Sie löste Roberto Balzaretti ab. Doch auch sie konnte in sechs Verhandlungsrunden keine wesentlichen Verbesserungen in den Streitpunkten erreichen.

Keinen Durchbruch gelang auch Bundespräsident Parmelin bei seinem Besuch Ende April. Im Gegenteil: Nach den Gesprächen mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärte er, die Differenzen zwischen den beiden Seiten seien fundamental.

Ursula von der Leyen und Guy Parmelin haben es im April auch nicht geschafft, die Differenzen auszuräumen.

Ursula von der Leyen und Guy Parmelin haben es im April auch nicht geschafft, die Differenzen auszuräumen.

Keystone

Damit stehen die Schweiz und die Europäische Union nach siebenjährigen Verhandlungen mit leeren Händen da. Dabei machte vor allem der Bundesrat oft keine gute Falle. Das Abkommen lag seit 2018 ausgehandelt auf dem Tisch, doch er zögerte lange, den Vertrag zu unterschrieben. Damit überliess er auch den Kritikern das Feld. Während die Gewerkschaften vor Zugeständnissen beim Lohnschutz warnten, lehnte die SVP den Vertrag aus grundsätzlichen Überlegungen ab.

Rund 120 Verträge

Zur Erinnerung: Das Rahmenabkommen sollte einheitliche Spielregeln zwischen der Schweiz und dem EU-Binnenmarkt festlegen. Heute wird der Zugang in rund 120 Verträgen geregelt. Der EU ist das zu kompliziert. Im Kern sollte der Vertrag institutionelle Mechanismen definieren, wie bestehende Abkommen an neue Entwicklungen im EU-Recht angepasst werden und wer bei Streitigkeiten zwischen der EU und der Schweiz vermittelt.

Ein Vorteil des früh eingesetzten Totengeläuts: Der Bundesrat hat sich vorbereitet für den Fall des Scheiterns des Rahmenabkommens. Der Plan B soll eine Eskalation mit der EU verhindern und eine Übergangsphase im bilateralen Verhältnis ohne Rahmenabkommen möglich machen. Der Bundesrat sei sich bewusst, dass das Scheitern des Abkommens auch mit Nachteilen verbunden sei, betonte Cassis vor den Medien. Trotzdem müsse man nun optimistisch bleiben.

Der Bundesrat möchte nun einen politischen Dialog über die weitere Zusammenarbeit aufnehmen. Er ist bestrebt, mit der EU konkrete Probleme zu lösen, um eine möglichst reibungslose Anwendung der bilateralen Verträge zu gewährleisten.

Gleichzeitig soll das Justizdepartement prüfen, wie das bilaterale Verhältnis mit möglichen, autonomen Anpassungen im nationalen Recht stabilisiert werden könnte. Ziel dürfte es sein, das Schweizer Recht in unbestrittenen Politikbereichen an EU-Bestimmungen anpassen, damit der Bundesrat Brüssel weniger Angriffsfläche für Nadelstiche bietet. Justizministerin Karin Keller-Sutter versicherte jedoch, es sei nicht die Idee, überall einseitig EU-Recht zu übernehmen. Es gehe um die Frage, wie die Schweiz ihre Ziele im bilateralen Verhältnis bestmöglich erreichen könne.

Bundesrat Ignazio Cassis und die Chefunterhändlerin Livia Leu.

Bundesrat Ignazio Cassis und die Chefunterhändlerin Livia Leu.

Keystone

Als Zeichen der guten Geste will sich der Bundesrat dafür einsetzen, dass die blockierte Kohäsionsmilliarde rasch freigegeben wird. Der finanzielle Betrag, der vorwiegend für Projekte in Osteuropa gedacht ist, haben National- und Ständerat auf Eis gelegt, solange die EU der Schweiz die Börsenäquivalenz verweigert.

«Gravierende Folgen» befürchtet

Trotz diesem Plan B dürften die Folgen für bilateralen Beziehungen gravierend ausfallen. Das legt zumindest ein Geheimpapier des Bundesrats nahe, das kürzlich durchsickerte. Die Bundesverwaltung listet darin 24 Politikfelder auf, die betroffen wären, sollte der Rahmenvertrag mit der EU scheitern. Das Fazit: Ein Nichtzustandekommen des Vertrags hätte gravierende Folgen für Schweiz, vor allem in den Bereichen Landwirtschaft, Strom und öffentliche Gesundheit.

Auf Nachfrage wollten sich vor den Medien keine der drei Bundesräte zum Geheimpapier und den volkswirtschaftlichen Kosten äussern. Aus Sicht von Bundespräsident Parmelin ist die Abschätzung der Konsequenzen nur schwer möglich.

Ganz konkret war dann die Reaktion der EU. Sie hat angekündigt, bei einem Scheitern des Rahmenabkommens keine bestehende bilaterale Abkommen mehr zu aktualisieren. Als erstes Opfer stellte sich am Mittwoch die Branche der Medizinaltechnik heraus, die etwa Hüftgelenke, Brustimplantate oder auch Schutzmasken herstellt. Hier wird der gegenseitige Marktzugang erschwert. Zwar hat der Bundesrat letzte Woche Abfederungsmassnahmen ergriffen. Nicht helfen kann der Bundesrat jedoch Schweizer Firmen, die in die EU exportieren.