Archivöffnung
Schweiz als «Kolonialstaat»: Protokolle des Bundesrats zur EWR-Debatte von 1991 veröffentlicht

Am 1. Januar läuft die Schutzfrist für die Bundesakten von 1991 ab. Die Sitzungsprotokolle des Bundesrats zeigen, wie gespalten die damalige Regierung war.

Gina Bachmann
Drucken
Die alt Bundesräte Jean-Pascal Delamuraz, René Felber und Arnold Koller nach der verlorenen Abstimmung zum EWR-Beitritt 1992.

Die alt Bundesräte Jean-Pascal Delamuraz, René Felber und Arnold Koller nach der verlorenen Abstimmung zum EWR-Beitritt 1992.

Keystone

Zwanzig Jahre sind vergangen, seit der damalige Bundesrat den Beschluss fasste, den EWR-Vertrag zu akzeptieren und längerfristig einen EU-Beitritt anzusteuern. Nun ist die Schutzfrist für die Bundesakten aus dem Jahr 1991 abgelaufen und die bislang geheimen Protokolle der Bundesratssitzungen zur EWR-Debatte wurden öffentlich. Die Forschungsstelle Dodis hat die Dokumente in einem neu veröffentlichen Band analysiert, wie sie am Samstag mitteilte.

Die Forschungsstelle schreibt, die Dokumente von 1991 würden das Bild eines «ernüchternden Jahres» zeichnen, in dem die Schweiz vor vielen Herausforderungen stand. Die Dokumente zeigen vor allem, wie gespalten die damalige Regierung in der EWR-Verhandlung war. Der damalige Bundespräsident Flavio Cotti (CVP) sprach etwa von «demütigenden Verhandlungen», die es zugunsten eines EU-Beitritts (damals noch EG), rasch abzubrechen galt.

Schweiz hinkte laut EU-Unterhändler 30 Jahre hinterher

Deutlich äusserte sich auch alt Finanzminister Otto Stich (SP) in einer Bundesratssitzung vom April 1991: «Ein EWR, wie er sich nun jetzt abzeichnet, bedeutet eine Satellisierung der Schweiz.» Parteikollege Felber hingegen sprach von «zahlreichen positiven Punkten» und «sicheren Vorteilen», während laut Arnold Koller (CVP) bei vielen der Eindruck entstanden sei, die Schweiz liesse sich in den Verhandlungen «tranchenweise abschlachten.» Für Kaspar Villiger (FDP) bewegte sich die Schweiz damals gar «auf dem Weg eines Kolonialstaats mit Autonomiestatut».

Trotz harscher Kritik am Vertrag stimmte ihm der Bundesrat schliesslich zu. Die Vorlage scheiterte jedoch 1992 in der Volksabstimmung.

Nicht nur auf Schweizer Seite wurden in der EWR-Debatte markige Worte gewählt, sondern auch von den europäischen Verhandlungspartnern, wie die Dokumente zeigen. In einer Notiz fasste der damalige Schweizer Staatssekretär Franz Blankart ein inoffizielles Gespräch mit dem EG-Verhandlungschef zusammen. Dieser habe der Schweiz ein «Modernitätsdefizit von 30 Jahren» vorgeworfen, bei der Gesetzgebung, dem Solidaritätsbewusstsein und der Mentalität. «Falls ein solches Defizit durch den Beitritt korrigiert werden soll, so könne letzterer nur in zwei Schritten, d.h. via EWR erfolgen», heisst es in der Notiz weiter.