Der Verhandlungsabbruch zum Rahmenabkommen mit der EU sei ein Erfolg von Christoph Blocher und der SVP, heisst es. Doch abgerechnet wird an den eidgenössischen Wahlen im Herbst 2023. Und da steht die Partei jetzt ohne Wahlkampfschlager da. Profitieren vom aussenpolitischen Scherbenhaufen könnten die Grünliberalen.
Die Schweiz mag die politische Folklore. Zum festen Inventar gehört dabei die Illusion, Bundesräte stünden immer und in jedem Fall über parteipolitischen Interessen. Niemals, so betonen allerlei Magistratspersonen rituell, würden sie auch nur mit einem halben Auge auf das Wohlergehen ihrer Parteien schielen; immer hätten sie hingegen das Landesinteresse als Ganzes fest im Blick. Vermutlich ist diese Erzählung in einem Land, das sich durch die grösstmögliche Koalition regieren lässt, notwendig. Glauben muss man sie dennoch nicht. Denn auch Bundesräte haben politische Loyalitäten. Es ist deshalb ganz und gar logisch, dass ihnen der Erfolg ihrer Partei am Herzen liegt. Auch mit Blick auf ihre Wiederwahl.
Die Frage sei deshalb erlaubt: Wem nützt der Abbruch der Verhandlungen mit der Europäischen Union zum institutionellen Rahmenabkommen? Wem schadet er? Zunächst: Die SVP und ihr Urgestein Christoph Blocher wurden in vielen Medien zu Siegern erkoren. Auf der sachpolitischen Ebene ist das wohl richtig - auch wenn ein noch nicht fertig verhandeltes Paket im Grunde sachlich gar nicht beurteilt werden kann. Doch auch der SVP ging es schon früh um Parteipolitik. Und hier liegen die Dinge gänzlich anders. In einer für die SVP perfekten Welt nämlich hätte das Abkommen unterzeichnet werden müssen. Nach dem Lauf der Dinge wären Parlamentsdebatte, Referendumsfrist und womöglich sogar Volksabstimmung auf eine ideale Zeitschiene zu den eidgenössischen Wahlen im Herbst 2023 zu liegen gekommen. Ein Traumszenario für die Volkspartei, deren einstiger kometenhafter Aufstieg eng mit der EWR-Abstimmung 1992 zusammenhängt. Für die in jüngster Zeit schwächelnde Partei wären Wahlen unter dem Vorzeichen des Rahmenabkommens ein Geschenk des Himmels gewesen. Und jetzt? Der Feind abhandengekommen, das Lieblingsthema weg und kein anderes in Sicht. Kurz: Ein Desaster.
Nicht gut, aber immerhin etwas besser sieht es für FDP, Mitte und SP aus. Allen drei Parteien drohten bei einem Abstimmungskampf zum Rahmenabkommen hässliche interne Querelen. Der SP mit ihrem Gewerkschaftsflügel. Insbesondere aber die Freisinnigen boten im Rahmenabkommen-Dossier ein pitoyables Bild, ihr Aussenminister Ignazio Cassis wäre in den Wahlen zur ernsthaften Belastung geworden.
Diese Gefahr ist nun zumindest teilweise gebannt, auch wenn das bundesrätliche Manöver den umstrittenen zweiten freisinnigen Sitz im Bundesrat noch lange nicht gesichert hat. So warf die NZZ am Donnerstag die maliziöse Frage auf, ob die «Freunde des bilateralen Wegs und eines wirtschaftsfreundlichen Rahmenabkommens in der FDP und darüber hinaus» künftig «mit einer Vertreterin oder einem Vertreter der Grünliberalen nicht besser bedient wären». Bemerkenswerte Töne, die man sich vom Leib- und Magenblatt des hiesigen Liberalismus' bisher nicht gewohnt war. Doch bis zu den Wahlen, so muss die FDP hoffen, könnte die erste Frustration über den bundesrätlichen Entscheid etwas verraucht sein.
Eigentliche Gewinnerin sind die Grünliberalen. Die erfolgsverwöhnte Partei hat beim Rahmenabkommen von Anfang an eine schnörkellose Ja-Linie verfolgt. Als Oppositionspartei und damit vom Bundesratsentscheid unbelastet, wird sie bei jedem nun zu befürchtenden Nadelstich der EU auf ihre klare Positionierung verweisen und der Konkurrenz die Schuld geben können. Auch wenn diese Position etwas billig ist, so dürfte sie das wirtschaftsfreundliche Profil der Partei im Elektorat schärfen. Für die Wahlen 2023 verheisst das für die Partei durchaus Gutes.
Für die FDP und insbesondere Ignazio Cassis geht es in den nächsten Wahlen um viel, der Formstand der Partei ist miserabel. Gewiss, nach dieser Woche ist nun die Konkurrentin SVP thematisch geschwächt. Aber ob das reicht, um den freisinnigen Absturz zu verhindern, bleibt offen. Denn die eigentliche Gefahr droht den Freisinnigen ohnehin von den Grünliberalen. Mit dem historischen europapolitischen Entscheid vom Mittwoch ist sie nur noch grösser geworden.