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Der Kommentar zur erneuten Eskalation im Nahostkonflikt von Israel-Korrespondentin Judith Poppe.
Es ist die Fantasie eines israelischen Freundes, herphilosophiert in einer alkoholgetränkten Nacht in Tel Aviv: Ein Flugzeug fliegt über den gesamten Nahen Osten und versprüht das Spray des Vergessens, löscht alle Massaker, Kriege, Traumata und Schmerzen, die sämtliche Menschen, die diese Gegend bewohnen, erlebt haben, aus den Gedächtnissen. Um von dort aus die Verhältnisse neu sortieren zu können…
Ein solches Spray wäre längst überfällig, doch bisher hat es die Wissenschaft noch nicht entwickelt. Die derzeitigen Ereignisse zeigen eines ganz deutlich: Es gibt zu viele nicht geheilte Wunden hier. Zu viel Wut, zu viel Angst und zu viel – auch daraus entstandene – strukturelle Ungleichheit.
Die vielen schlechten Nachrichten aus diesem Landstrich vom Mittelmeer zum Jordan, die derzeit minütlich über die Bildschirme flimmern, sind schwer zu ertragen. Und jetzt hat auch noch Naftali Bennett, Anführer der Siedlerpartei Yamina, angesichts dieser Entwicklungen das Handtuch geworfen. Es wird sie wohl nicht geben, die Regierungskoalition, in der der ganz grosse Spagat zwischen den rechten Siedlern und der islamisch-konservativen Partei Ra’am geschlagen wird, und die gerade wegen deren Beteiligung eine Hoffnung auf einen Wandel in Israel aufkommen liess.
Es ist offensichtlich, dass die Palästinenserinnen und Palästinenser in dieser Geschichte im Moment die Underdogs sind. Sie leiden nicht nur unter der Diskriminierung innerhalb der Grenzen Israelis, unter der Besatzung mit all ihren Folgen, sondern auch darunter, dass die Palästinafrage international immer mehr in der Bedeutungslosigkeit versunken ist.
Doch auch auf der jüdischen Seite wirken Traumata, die mitverantwortlich sind für diese Entwicklungen. Auch in Israel, obwohl mittlerweile eines der militärisch stärksten Länder der Welt ist, herrscht eine ganz real empfundene Angst. Sie wurzelt in der Geschichte von Verfolgungen und geht zurück auf die Shoah und das ganz fest gesetzte Ziel, dass sich dies, um es mit Theodor W. Adorno zu sagen, nicht wiederholen möge.