«Gelbwesten»
Wo der Zorn herkommt

Kolumne von Peter Rothenbühler zum Protest der «Gelbwesten».

Peter Röthenbühler
Peter Röthenbühler
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"Gelbwesten" am Arc de Triomphe auf den Champs Elysees in Paris am Samstagmorgen.

"Gelbwesten" am Arc de Triomphe auf den Champs Elysees in Paris am Samstagmorgen.

KEYSTONE/EPA/ETIENNE LAURENT

Wer wissen will, warum die französischen «Gelbwesten» auf die Strassenkreisel gegangen sind, um den Verkehr aufzuhalten, muss nur mal in der tiefen französischen Provinz spazieren gehen: In den Dörfern stehen eine Mairie, Sitz des Bürgermeisters, eine Kirche und ein Kriegerdenkmal und vielleicht noch ein Laden, wenn überhaupt. Der Bahnhof ist längst geschleift, wenn ein Bus verkehrt, dann höchstens zwei Mal am Tag. Vor den einfachen Einfamilienhäusern stehen mehrere ältere Kleinwagen, für jedes Familienmitglied eins. Mit Diesel betrieben, denn der Staat hat jahrzehntelang Diesel propagiert und verbilligt. Jeder fährt mit dem Auto zur Arbeit, eine Alternative gibts nicht. Wenn Mutter und Vater und zwei Kinder arbeiten, dann brauchts halt vier Autos. Nah-verkehr gibts nur rund um die Grossstädte. Frankreich hat auf die grossen Linien mit Hochgeschwindigkeitszügen gesetzt.

Sehr viele Menschen verdienen knapp 1300 Euro Mindestlohn (SMIC), wenns gut geht, kommt ein Paar auf 2500 bis 3000 Euro. Fast fünfzig Prozent davon gehen für Steuern und Abgaben weg. Ende Monat klafft ein Loch in der Kasse. Frankreich ist ein Land, wo alle auf Pump leben, allen voran der Staat mit der höchsten Verschuldung Europas. Und die Bürger mit Leasingverträgen auf Fernsehapparaten und Autos.

Seit eine sozialistische Regierung die 35-Stunden-Woche eingeführt hat, arbeiten viele zur Aufbesserung des Einkommens noch in einem andern Job, allerdings schwarz, ohne Steuern und Abgaben. Mit der stetig zunehmenden Steuer- und Abgabenlast ist die Kaufkraft der «Classe moyenne» zurückgegangen, die Kluft zwischen den reichen Städtern und der Landbevölkerung immer grösser geworden. Nur wohlhabende Leute können sich eine Wohnung in den grossen Zentren leisten. Das «wahre» Frankreich lebt eher bescheiden und ärgert sich über jede neue Regulierung, die im fernen Paris entschieden wird: Vor wenigen Monaten wurde die Höchstgeschwindigkeit auf Landstrassen von 90 km/h auf 80 reduziert, die Massnahme ist den Autofahrern sauer aufgestossen.

Nur die ganz Reichen konnten der französischen Steuerhölle entkommen, 500 reiche Unternehmer pro Jahr verliessen in den letzten Jahren das Land in Richtung Schweiz, Belgien oder London. Dadurch entgingen dem Land 40 Milliarden Euro.

Seit Jahren haben die Leute den Eindruck, dass ihre Existenzsorgen von der politischen Elite, die sich in Paris konzentriert, nicht mehr wahrgenommen wird. Es brauchte also nur den berühmten Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Das war die neue Taxe auf den Treibstoffen, etwas mehr auf Diesel als auf Benzin. Mit zehn Prozent der zusätzlichen Einnahmen sollen neue Energien gefördert werden, der Rest geht in die überschuldete Staatskasse.

Es war eine Frau, die als Erste auf Facebook ausgerufen hat, jetzt reiche es, jetzt müsse man auf die Strasse gehen und die Autos blockieren. Das geschah spontan bei den vielen Verkehrskreiseln, die Demonstranten zogen zur Sicherheit die gelbe Warnweste über, eine recht geniale Lösung, weil die Weste vieles symbolisiert: Es sind Autofahrer, die wütend sind, und es geht ihnen vor allem darum, endlich wahrgenommen zu werden, und zwar vom Präsidenten persönlich. Auf ihn konzentriert sich die lange angestaute Wut.

Die rund 120'000 «Gelbwesten», eigentlich eine kleine Minderheit, kommen aus allen politischen Richtungen, es hat Rechtsextreme wie Linksextreme darunter. Interessanterweise ist der Frauenanteil sehr hoch. Die Mutter verwaltet in der französischen Familie die Kasse, sie weiss als Erste, wann es nicht mehr reicht. Die Demos der «Gelbwesten», unstrukturiert und ohne klare Führung, die Ausschreitungen bei zwei Grossdemos in Paris hatten eine massive Schockwirkung auf die Regierung, aber auch auf die Parteien und Gewerkschaften, die nicht voraussahen, was auf sie zukommt. Die französische Polit-Elite, links wie rechts, muss sich jetzt ernsthaft überlegen, wie die «Vergessenen», die Unsichtbaren, die Menschen in der tiefen Provinz besser in die politische Meinungsbildung und Entscheidungsfindung eingebunden werden könnten. Der angekündigte Verzicht auf die Benzintaxe und 100 Euro Zustupf für die Mindestlohnempfänger sind nur ein Pflästerchen. Das Malaise der Menschen, die sich abgehängt fühlen, bleibt.

Peter Rothenbühler: Der Autor, Journalist und Editorial Designer war Chefredaktor von «SonntagsBlick», «Schweizer Illustrierte» und «Le Matin». Er lebt in Lausanne und Paris.