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Der Umgang der Sportverbände mit schweren Vorwürfen junger Sportlerinnen lässt tief in die Seele der Turnfamilie blicken. Journalistinnen, die nachfragen, werden mit Ausflüchten abgespeist: Verantwortlich für die Einhaltung der Ethikcharta ist niemand.
«Ich habe mich noch nie so allein gefühlt. Niemand ist auf meiner Seite.» Diese Sätze wiederholte das mutmassliche Opfer des Cheftrainers am Regionalen Leistungszentrum (RLZ) Ostschweiz für Kunstturnen immer wieder.
Die junge Frau wagte es im Sommer 2019, ihren Trainer anzuzeigen, weil er «Dinge getan hat, die er als meine wichtigste Vertrauensperson niemals hätte tun dürfen», wie sie es ausdrückte. Der Mann wurde von der St.Galler Kantonspolizei verhaftet, später entgegen dem Willen der St. Galler Staatsanwaltschaft gegen Kaution entlassen.
In diesem Frühjahr hat die Staatsanwaltschaft ihn nach kurzer Ermittlungszeit wegen mehrfachen sexuellen Missbrauchs sowie Nötigung einer minderjährigen Schutzbefohlenen angeklagt. Für den Trainer, der dadurch seinen Job verlor, gilt die Unschuldsvermutung. Seine Ehefrau, die nach seinem Weggang von den Verantwortlichen achselzuckend zu seiner Nachfolgerin auf dem Cheftrainerposten erhoben wurde, hat nichts Verbotenes getan, als sie das Jobangebot akzeptierte.
Unabhängig davon erhält die Verzweiflung des mutmasslichen Opfers von Wil vor dem Hintergrund der aktuellen Vorkommnisse im Schweizer Turnsport eine besondere Note. Die Kaderturnerin beendete ihre Sportlaufbahn, weil ihre Turnfamilie sie mehrfach der Lüge bezichtigte und faktisch verstiess.
Was die Geschichte der jungen Kunstturnerin mit jener der Gymnastinnen, die ihren Ex-Trainerinnen massive physische und psychische Grenzverletzungen vorwerfen, gemeinsam hat:
Die sportlichen Karrieren dieser jungen Frauen endeten abrupt, als sie versuchten, sich zu wehren.
Über all das werfen die Turn- und Sportverbände am liebsten einen Mantel des Schweigens.
Hier einige Textbausteine an die Adresse von Journalistinnen, die nachfragen, wie Turnerinnen, die Übergriffe beklagen, geschützt werden:
Wer weiss, welche Überwindung es Frauen in Abhängigkeitsverhältnissen kostet, sich gegen erlittenes Unrecht zu wehren, weiss auch, wie erniedrigend der anschliessende Weg ist, und mit welchen Einschüchterungs- und Drohgebärden der Gegenseite sie fertig werden müssen. Nun zeigt sich auch, wie äusserst bescheiden die Anstrengungen der Schweizer Sportfunktionäre in den Dachverbänden ausfallen, auch nur ein halbes Mal für diese Frauen Partei zu ergreifen.
Dass in dieser Woche zwei Trainerinnen entlassen wurden, sämtliche Verantwortlichen des Turnverbands jedoch weiter im Amt sind, passt ins Bild. So viel zum Zauber der Schweizer Turnfamilie – und seiner hässlichen Kehrseite.