Wochenkommentar
Wie sich ein verlorener Kanton zurückkämpft

In seinem Wochenkommentar schreibt «Schweiz am Wochenende»-Politikchef Othmar von Matt über die Bundesrats-Kandidatur des Tessins.

Othmar von Matt
Othmar von Matt
Drucken
Othmar von Matt: «Forsch, transparent, stolz und selbstbewusst: So steigt das Tessin ins Rennen.» (Symbolbild)

Othmar von Matt: «Forsch, transparent, stolz und selbstbewusst: So steigt das Tessin ins Rennen.» (Symbolbild)

KEYSTONE/TI-PRESS/GABRIELE PUTZU

Über 500 SMS und Whatsapp-Nachrichten und ebenso viele E-Mails erhielt Nationalrat Ignazio Cassis, nachdem die FDP des Kantons Tessin seine Bundesrats-Kandidatur bekannt gab. Es ist eine Tessiner Einer-Kandidatur – obwohl verschiedene Medien und auch die SP den Tessiner Freisinn vor genau diesem Schritt warnten. Gleichzeitig ist das Tessin der erste Kanton, der sich in Sachen Bundesrats-Kandidatur in die Karten blicken lässt. Cassis höchstpersönlich hatte dazu seine Bedenken und fragte bei der Parteispitze nach, ob die Anmeldefrist vom 10. Juli taktisch nicht verfrüht sei. Präsident Bixio Caprara beschied: «Das bleibt so. Punkt.»

Forsch, transparent, stolz und selbstbewusst: So steigt das Tessin ins Rennen um die Nachfolge von Aussenminister Didier Burkhalter. Die Restschweiz nimmts verblüfft zur Kenntnis. Bisher hat sie die Südschweiz anders wahrgenommen: Zaudernd, zerstritten und jammernd, vor allem, wenn es um Bundesratswahlen ging. Negativer Höhepunkt war die Kandidatur von Marina Carobbio 2011. Die SP-Nationalrätin schaffte es in der SP nicht auf das offizielle Ticket für die Nachfolge von Micheline Calmy-Rey.

Die Partei von Präsident Christian Levrat, der heute von der FDP ein Frauen-Doppelticket will, forcierte mit Alain Berset und Pierre-Yves Maillard ein Westschweizer Männerduo. Die zehnköpfige Tessiner Parlamentarier-Deputation gab dabei ein klägliches Bild ab. Offiziell beschloss sie zwar, für Carobbio zu weibeln. Sie erhielt im ersten Wahlgang tatsächlich zehn symbolische Stimmen. Doch nur gerade fünf stammten aus der Tessiner Deputation, wie der «Corriere del Ticino» später enthüllte.

Dieser Auftritt widerspiegelte den inneren Zustand eines zerrissenen Kantons. Im April 2011 hatte die Lega für ein Erdbeben gesorgt. Bei den Regierungsratswahlen löste sie mit 29,8 Prozent Wähleranteil die FDP (25 Prozent) erstmals als stärkste Partei ab. Der stolze Tessiner Freisinn mit seinen zerstrittenen Flügeln – einem etatistischen und einem wirtschaftsliberalen – stürzte in die Krise. Der Druck Italiens auf den Finanzplatz von Lugano, die italienischen Grenzgänger und das mit ihnen verbundene Lohndumping verschärften die Zukunftsängste der Tessiner. Am 9. Februar 2014 stimmte das Tessin der Masseneinwanderungs-Initiative mit 68,2 Prozent deutlicher zu als alle anderen Kantone.

Schritt für Schritt kämpfte sich das Tessin dann zurück – zunächst mit «aussenpolitischen» Massnahmen. «Für das Tessin ist es enorm wichtig, sich zu vernetzten», sagt Cassis. «Sonst besteht die Gefahr, dass es sich auf eine Position des Jammerns zurückzieht.» Es war ein Lega-Mann, der dabei eine wichtige Rolle spielte. Norman Gobbi, 2011 in den Staatsrat gewählt, brachte die Tessiner Probleme auf die nationale Agenda, mit Diplomat Jörg de Bernardi, ab 2011 Lobbyist des Tessins in Bern. 2015 spielte Gobbi Winkelried für das Tessin. Erstmals seit 1999 war wieder ein Tessiner offiziell nominierter Bundesrats-Kandidat.

Reformen waren aber auch im Innern nötig. Der Freisinn unterzog sich 2012 einer radikalen Fitnesskur. Der Unternehmer und Ex-Radprofi Rocco Cattaneo verjüngte und erneuerte die Partei. Er räumte dem Jungfreisinn viel Spielraum ein und brach mit Regierungsrätin Laura Sadis, die 2015 das Handtuch als Regierungsrätin warf. Die Tessiner FDP zog mit einem jungen Fünferteam um den späteren Staatsrat Christian Vitta in die Regierungsratswahlen. Fulvio Pelli, Ex-FDP-Präsident, spricht von einer «totalen Revolution, die zu einem grossen Erfolg wurde». Cattaneo habe es geschafft, dass in der FDP plötzlich Sach- und nicht mehr Personenpolitik im Zentrum stand», sagt auch Cassis.

Die neue Generation um Vitta hat die alten Tessiner Pfade verlassen. Sie führt keine kleingeistigen Dorfkriege und jammert nicht, sondern schafft Innovationen. Vitta sanierte die Kantonsfinanzen und sorgte für ökonomische Impulse. Eine wichtige Rolle spielt auch die Università della Svizzera Italiana. Der Forschungsplatz Tessin gilt als strategischer Wachstumsfaktor. Mit dem Neat-Basistunnel hat sich zudem das Lebensgefühl der Tessiner verändert.

Was vor fünf Jahren als Illusion galt, ist heute zu einer echten Alternative geworden: im Tessin zu leben und in Zürich zu arbeiten. «Das Tessin rückte näher an die Schweiz nördlich der Alpen», sagt Bixio Caprara. Für ihn soll sich das Tessin so entwickeln, wie er die Kandidatur von Ignazio Cassis präsentierte: sachlich, ohne Lamento, selbstbewusst. Für seine Zukunft brauche das Tessin eine enge Vernetzung mit der Schweiz. «Nur so», glaubt er, «kann es mit seinen 380 000 Einwohnern im Spannungsfeld mit den fast 10 Millionen Einwohnern der Lombardei bestehen.»

Die Tessiner haben ihren Komplex abgelegt, B-Schweizer zu sein – oder hässliche Entlein, die «immerzu das Gefühl haben, benachteiligt zu sein», wie es Filmfestival-Präsident Marco Solari sagt. Die Welt würde sich selbst dann weiterdrehen, sollte Ignazio Cassis nicht Bundesrat werden, das weiss das Tessin inzwischen.