Das Thema: Gibt es zu viele Gymnasiasten in der Schweiz? Jüngst sorgten Umfrageergebnisse darüber für Diskussionen in der Öffentlichkeit.
Der Kommentar: Die Frage hat nicht nur politische Relevanz; sie spricht private Lebensbereiche an. Irgendwann fragen sich Eltern, welches der beste Bildungsweg, der beste Start in die berufliche Laufbahn ist für die Kinder. Alle Eltern wollen ihre Kinder möglichst gut aufs Leben vorbereiten. Viele Oberstufenschüler stehen vor der Frage, wie es nach der Volksschule weitergehen soll. Sie besuchen Berufsmessen, sehen sich nach einer Lehrstelle um oder bereiten sich auf die Aufnahmeprüfungen ans Gymnasium vor. Welches ist nun der bessere Weg? Eine Berufslehre oder die Matura?
Ich beobachte immer wieder, dass viele Eltern ihre Kinder unbedingt ins Gymnasium bringen wollen. Sie lassen sich dabei oft von Wunsch- und Prestigedenken leiten, statt die Eignungen und Neigungen ihrer Kinder realistisch zu beurteilen und zu fördern. Beim Entscheid zwischen Berufslehre und Matura handelt es sich nicht um einen Schicksalsentscheid, der die berufliche Zukunft der Kinder besiegelt.
Ich bin der Meinung, dass eine Berufslehre für die meisten Kinder ein guter und sicherer Start ins Berufsleben ist. Ich selber habe zwar eine Matura gemacht und danach an der ETH ein Studium absolviert. Im Gegensatz dazu haben mein Sohn und meine Tochter eine Informatiker- beziehungsweise Banklehre abgeschlossen. Beide haben es nicht bereut – im Gegenteil.
Das Schweizer Modell der dualen Berufsbildung hält alle Türen offen. Die Durchlässigkeit des Systems ist ein Hit. Selbst Länder wie die USA beneiden uns dafür und wollen eine Berufsbildung nach Schweizer Vorbild einführen. Dank unseres Systems beträgt die Jugendarbeitslosigkeit in der Schweiz lediglich 3 Prozent. Im Vergleich dazu kämpfen Industrieländer wie Italien oder Spanien mit Quoten von 40 Prozent. Wer in der Schweiz eine Lehre abschliesst, hat gute Chancen, einen interessanten Job auszuüben und damit genügend Geld zum Leben zu verdienen. Und wer sich nach dem Lehrabschluss weiterbilden möchte, hat vielfältige Möglichkeiten – sei es höhere Berufsbildung oder Fachhochschule. Beides sind gleichwertige Weiterbildungspfade. Mehr noch: Ein Polymechaniker kann mit einer Berufsmatura via Fachhochschule und Passerelle an die ETH gehen und dort mit einem Master oder Doktorat abschliessen. Das ist weltweit einmalig.
Natürlich steht den Jugendlichen auch der direkte Weg über das Gymnasium an eine Uni offen. Das ist nicht der bessere oder schlechtere Weg. Berufslehre und Gymnasium sind zwei sich ergänzende Bildungswege. Entscheidend ist, was individuell das Richtige ist. Zudem fragt sich: Was ist, wenn es mit der Matura oder mit dem Studium nicht klappt? Anders als bei Lehrabbrüchen wird die hohe Abbruchquote im Gymnasium und an den Hochschulen kaum erwähnt. Ein Abbruch des Gymnasiums oder eines Studiums birgt Risiken. Betroffene stehen dann vor dem Nichts, weil eine Matura keine Berufsbefähigung ist, die muss mühevoll nachgeholt werden.
Die Maschinen-, Elektro- und Metall-Industrie (MEM-Industrie) bietet heute in der Schweiz 320 000 Jobs an. Nur rund 10 Prozent davon setzen einen Hochschulabschluss voraus. Das bedeutet, dass die Industrie zu 90 Prozent Mitarbeitende mit einer Berufslehre braucht. Davon absolvieren viele nach der Lehre eine höhere Fachausbildung, eine Fachhochschule, oder sie bilden sich «on the job» weiter. Auch mit einer Berufslehre kann man je nach Eignung und Neigung eine Karriere Schritt um Schritt aufbauen.
Was heisst das für den Lohn? Ich bin überzeugt, dass er primär von der Leistungsbereitschaft und nicht vom Bildungsweg abhängt. Rund achtzig Prozent der CEOs in der MEM-Industrie haben ihre berufliche Karriere mit einer Lehre begonnen. Dazu gehören prominente Persönlichkeiten wie Peter Voser, VR-Präsident von ABB. Ein Beispiel aus einer anderen Branche ist Sergio Ermotti, CEO der UBS. Dass man mit einer Berufslehre weniger verdient als mit einer Matura, ist Fake-News.
Die Lohnerwartung ist bei der Berufswahl sowieso ein schlechter Ratgeber. Man kann in jedem Beruf überdurchschnittliche Leistungen erbringen und sehr erfolgreich sein. Wichtig ist letztlich, dass der Beruf Spass macht, Befriedigung bringt und man dafür eine gewisse Eignung hat.
Hans Hess ist Präsident von Swissmem und Vizepräsident von Economiesuisse.