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Der Wochenkommentar über das russische Kesseltreiben, Kämpfe in der Ukraine und Parallelen zu den beiden Weltkriegen.
Es hat etwas Irritierendes: In den Zeitungen werden wieder Europakarten abgebildet mit Truppenbeständen, Panzerstärken und Anzahl Kampfjets in Ost und West. Die schnelle Eingreiftruppe der Nato (NRF) stellt sich darauf ein, erstmals in ihrer Geschichte eingesetzt zu werden; zusätzlich wird sie nun rasch um eine Spezialeinheit von mehreren Tausend Soldaten ergänzt, die innert wenigen Tagen im Einsatz stünde. Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen sagt: «Wir sind mit einer dramatisch veränderten Sicherheitslage konfrontiert.» Die Annexion der Krim und der Krieg in der Ostukraine seien «ein Wendepunkt für Europa». Die «Süddeutsche Zeitung» kommt zum Schluss: «Seit 25 Jahren war Europas Sicherheit nicht mehr so stark gefährdet wie heute.»
Ein Hauch Kalter Krieg weht über unseren Kontinent. Und niemand weiss, ob er sich zu einem Wind oder gar zu einem Sturm entwickelt. Erleben wir nur ein Muskelspiel des russischen Präsidenten Wladimir Putin, wird sich die Lage rasch wieder beruhigen? Oder stecken wir mitten in Veränderungen, die eine Eigendynamik entwickeln?
Oft entwickelt sich die Geschichte nicht rational
Rational betrachtet spricht alles für Variante 1. Die Welt ist verflochten wie noch nie, die Länder untereinander organisiert wie noch nie. Deshalb kann man sich nicht vorstellen, dass die Dinge komplett aus dem Ruder laufen. Die Welt ist auch wohlhabender denn je, trotz allen Elends. Deshalb haben viele viel zu verlieren. Auch Putin. Er kann kein Interesse an totaler Abschottung und dem Erliegen seiner Wirtschaft haben. Aber eben: Manche Wendung der Geschichte entstand nicht aufgrund rationaler Überlegungen, sondern durch eine nicht mehr kontrollierbare Verkettung von Umständen, also durch Zufall. Oder durch mangelnde Fähigkeit, sich in die Lage des anderen zu versetzen.
Das war insbesondere vor 100 Jahren so, zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Und es war vor 75 Jahren ähnlich, als der Zweite Weltkrieg ausbrach. Europa gedenkt derzeit den beiden Ereignissen. Und entdeckt dabei erstaunliche Parallelen zwischen damals und heute. Wiederholt sich die Geschichte?
Vor 100 Jahren hatten die Menschen die gleichen Themen
Ende der 1930er-Jahre begegnete Europa dem erstarkenden Hitler-Deutschland mit einer Appeasement-Politik; man versuchte, Hitler mit Zugeständnissen und Kompromissen unter Kontrolle zu halten. Heutige Historiker kritisieren diese Taktik, denn Europa hätte Hitler zu einem früheren Zeitpunkt problemlos stoppen können, wenn es militärisch eingegriffen hätte. Im Nachhinein ist das natürlich einfach festzustellen; wenn man hingegen mittendrin steckt, weiss man nicht, wie sich die Dinge entwickeln. Heute steht Europa vor der Frage, wie es den Aggressionen Putins begegnen soll. Militärische Gewalt ist – richtigerweise – keine Option, auch wenn wir nicht wissen, ob Historiker das eines Tages ebenfalls kritisieren werden.
Auch die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg weist viele Parallelen auf, wie das hervorragende Buch «Der taumelnde Kontinent - Europa 1900-1914» aufzeigt. Autor Philipp Blom schreibt: «Damals wie heute waren Gespräche und Presseartikel dominiert von neuen Technologien, von der Globalisierung, von Terrorismus, neuen Formen der Kommunikation und den Veränderungen im Sozialgefüge; damals wie heute waren die Menschen überwältigt von dem Gefühl, dass sie in einer sich beschleunigenden Welt lebten, die ins Unbekannte raste.»
Auch die Menschen jener Epoche erlebten einen fundamentalen Umbau der Gesellschaft, ausgelöst durch den technologischen Wandel. Plötzlich pendelte man zur Arbeit, man ass Fleisch aus Argentinien, trank Bier aus Grossbrauereien, Stress führte verbreitet zur Krankheit, die man heute Burnout nennt, es gab verbreitet Klagen über Sittenzerfall (weil Frauen plötzlich in Hosen Fahrrad fuhren) und zunehmende Jugendgewalt. Alles in allem aber war es eine goldene Zeit mit wachsendem Wohlstand. Niemand ahnte, welche Katastrophe bevorstand. Das Unheil begann ausserhalb Sarajevos mit Anschlägen von Partisanentruppen, die man keinem Staat klar zuordnen konnte. Das kennen wir doch alles irgendwie.
Und trotzdem: Die Geschichte wiederholt sich nicht einfach. Die Geschichte ist aber auch nie zu Ende. Sie setzt sich beständig fort.
christian.dorer@azmedien.ch