Startseite
Meinung
Kommentare AZ/BT
Am letzten Montag trat in Konstanz der 34-jährige türkische Rechtsanwalt Veysel Ok auf. Er sagte: «Es gibt keinen Rechtsstaat mehr in der Türkei.» Und: «Die Richter dürfen in diesem Land die Grundrechte nicht anwenden.» Veysel verteidigt vor allem Journalisten, unter ihnen Mehmet Altan und Deniz Yücel. Inzwischen ist er selber angeklagt.
war Professur für Medienwissenschaften an der Universität Bern und ist heute Ombudsmann für die SRG Deutschschweiz.
In der Türkei sind seit dem gescheiterten Putsch vom Juli 2016 Tausende von Offizieren, Lehrern, Professoren, Richtern, Anwälten und Journalisten ihrer Posten enthoben worden. Viele wurden verhaftet, angeklagt, eingekerkert. Da über 3000 Richter ausgewechselt worden sind, verlaufen die Prozesse in den meisten Fällen nach den Vorgaben der Regierung unter Präsident Erdoğan. Der Rechtsstaat hat Schlagseite bekommen.
Was sind die Charakteristika eines funktionierenden Rechtsstaates? Der Staat handelt auf der Grundlage von Gesetzen, die verfassungsmässig zustande gekommen sind. Die Gesetze beachten die Grundrechte (wie die Menschenwürde, die Rechtsgleichheit, das Willkürverbot, das Recht auf Leben und persönliche Freiheit, die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Medienfreiheit). Ist die Anwendung der Gesetze strittig, entscheiden unabhängige Richter. Vor ihren Schranken treten Anwälte auf, die frei sind, alle Rechte auszuschöpfen, und die nicht belangt werden dürfen dafür, dass sie jemanden verteidigen, der aus der Sicht der aktuellen Regierung als «Feind» gilt. Beschuldigte haben Anspruch auf das rechtliche Gehör. Verurteilte können Entscheide der ersten an die nächste Instanz weiterziehen.
Der Rechtsstaat ist der unverzichtbare Bruder der Demokratie. Wäre ein Land eine Demokratie, aber kein Rechtsstaat, so könnte die Volksmehrheit auch Schreckliches beschliessen, ohne dabei gebremst zu werden: Sie könnte den Minderheiten die Rechte nehmen, kritischen Schriftstellern den Mund verbieten, den einen Bürgerinnen und Bürgern hohe Abgaben auferlegen und den andern keine, ja ganze Volksgruppen ausrotten. Es entstünde eine Willkürherrschaft, eine totalitäre Demokratie. Dieses Stadium erreichte beispielsweise die Französische Revolution unter Robespierre, als die Guillotine pausenlos im Einsatz war.
Die Demokratie ist aber gleichzeitig die unverzichtbare Schwester des Rechtsstaates. Wäre ein Land ein Rechtsstaat, aber keine Demokratie, dann ginge die oberste Gewalt nicht vom Volk aus, sondern von einem Monarchen, einer Kaste, einer Militärjunta oder einer geistlichen Führung. In der Demokratie wird der Wille des Volkes berücksichtigt und umgesetzt, auch gegen anders gelagerte Interessen der Elite. Das Volk kann sein Schicksal selber in die Hand nehmen, während im demokratielosen Rechtsstaat eine kleine Clique herrscht. So war das vorrevolutionäre, monarchische Frankreich unter Louis XVI. durchaus ein Rechtsstaat, aber keine Demokratie.
Die Türkei ist weiterhin eine Demokratie, aber der Rechtsstaat ist quasi suspendiert. Da Richter dauernd befürchten müssen, dass sie abgesetzt werden, wenn ihre Urteile der politischen Obrigkeit nicht passen, entscheiden sich die meisten von ihnen für genehme Urteile und nur wenige für den Widerstand und damit für das Risiko der eigenen Entlassung. Ein Rechtsstaat funktioniert hingegen nur mit unabhängigen Richtern, die sich ausschliesslich am Recht und am eigenen Gewissen orientieren. Und er funktioniert nur, wenn Anwälten nicht droht, selber ins Gefängnis gesteckt zu werden, wenn sich der Staat durch sie «beleidigt» fühlt. Beide, Richter wie Anwälte, werdenindes in der Türkei zurzeit eingeschüchtert.
Was tun? Veysel Ok setzt seine ganze Hoffnung auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg. Bei ihm liegen seit dem Putschversuch schon über 10 000 türkische Fälle. Veysel Ok glaubt an den Gerichtshof, weil dieser die europäischen Werte und die Garantie der Rechtsstaatlichkeit verkörpere. Er kritisiert ihn aber auch, weil er mit den türkischen Fällen nicht vorwärtsmache. Am Beispiel der Türkei wird jedenfalls einmal mehr klar, wie wichtig die vom Europarat geschaffene Europäische Menschenrechtskonvention ist und welche bedeutende Rolle das Gericht in Strassburg spielt – für eine Idee der Gesellschaft und des Zusammenlebens, die auch die der Schweizerinnen und Schweizer ist.