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Um in die Zukunft zu sehen, hilft der Blick in die Literatur: In seinem Roman «Circle» (2013) beschreibt der amerikanische Autor Dave Eggers, wie wir uns von unserer Privatsphäre verabschieden. Die Welt wird zu einem Ort totaler Transparenz. Wer nicht bereit ist, jedes Detail seines Lebens mit der Öffentlichkeit zu teilen, macht sich verdächtig. Am Anfang dieser Entwicklung steht das Identifizierungssystem TruYou, das jeden Internetnutzer mit einer eigenen digitalen Identität ausstattet. Diese lässt sich weder manipulieren noch kopieren und kann nicht mehr abgelegt werden.
In der Schweiz – und hier verlassen wir das Fiktionale und kommen in der Realität an – will der Bundesrat eine Art TruYou entwickeln. Unsere Regierung erarbeitet derzeit die Grundlagen für eine digitale Identität, die mit der AHV-Nummer gekoppelt ist und die jeden Einwohner eindeutig identifizieren soll. Die unzähligen Passwörter für E-Mail bis E-Banking könnten dereinst durch ein einheitliches Authentifizierungssystem abgelöst werden, schreibt die «Schweiz am Wochenende». Gelingt dieses Vorhaben vollumfänglich, würde der Staat quasi unser ganzes Online-Verhalten durchleuchten. Jeder Beitrag im Netz, jedes Mail, jede Bezahlung liesse sich nachverfolgen und unserer AHV-Nummer zuordnen.
Der Bundesrat will damit den Bürokratieaufwand verringern. Denn heute hat der Staat die Informationen über uns in verschiedenen Datenbanken abgelegt. Gleichzeitig bedeutet das aber: Die Bürger werden gläsern. Eine Datenbank, eine Identität für unser ganzes Leben. Das Missbrauchspotenzial ist gewaltig. Der Datenschutzbeauftragte ist besorgt und spricht sich gegen eine Verwendung der AHV-Nummer für die digitale Identität aus. Er warnt davor, dass sich unbefugte Zugriff auf diese Datenbank verschaffen könnten. Ebenso bedenklich ist, dass der Staat durch die Verknüpfung der unterschiedlichen Daten einen detaillierten Einblick in unser soziales Verhalten bekommen könnte.
Im Sinne des Datenschutzes wäre es, dass die Bürger die Kontrolle behalten über die Daten, welche mit ihrer digitalen Identität verbunden sind. Genau dies ermöglicht die Blockchain – jene Technologie, welche der Kryptowährung Bitcoin zugrunde liegt. Für viele Experten ist sie die wichtigste Entwicklung des Internets, seit es das World Wide Web gibt. Anstatt die Daten auf einem zentralen Server – sei es jener des Bundes oder jener der Firma Circle – zu speichern, werden die Informationen dezentral auf den Rechnern aller beteiligter Nutzer abgelegt. Und zwar so, dass sie nicht manipuliert werden können und nur der jeweilige Nutzer darauf Zugriff hat. Dieser bestimmt, welche Daten mit anderen – sei es mit dem Staat oder mit einer Firma – geteilt werden. Die Stadt Zug hat bereits eine solche auf der Blockchain-Technologie basierende digitale Identität entwickelt.
Wir stehen an einem Scheideweg: Passwörter sind eine der grössten Mühsale des Internets. Für jeden Dienst, für den wir uns registrieren, müssen wir ein neues Passwort wählen. Und dieses soll knifflig genug sein, damit es nicht ruckzuck gehackt werden kann. Was im Endeffekt bedeutet, dass wir selber es uns nicht merken können. Dass Passwörter dereinst von einem übergeordneten Identifizierungssystem ersetzt werden, ist wahrscheinlich. Die Frage ist nur, ob es ein dezentrales im Sinne der Bürger oder ein zentrales im Sinne der Obrigkeit ist.
«Privatsphäre ist Diebstahl», lautet das Mantra der Firma Circle im eingangs erwähnten Roman von Dave Eggers. Die Internetnutzer werden absolut transparent: Jedes Räuspern ist auf ewig mit der Identität des Users verbunden. Alle Datenströme fliessen auf die Circle-Server, wo sie säuberlich ausgewertet werden. Wer nicht mit macht bei TruYou, weil er einen Teil seines Lebens privat gestalten will, wird als Verbrecher geächtet, der die Öffentlichkeit bestiehlt.
Es gilt dafür zu sorgen, dass diese allumfassende Überwachung eine literarische Fiktion bleibt. Die Schweiz könnte dabei eine Vorreiterrolle einnehmen. Nicht umsonst wird die Region Zug auch das «Crypto Valley» (abgeleitet vom «Silicon Valley») genannt; nirgendwo sonst haben sich so viele Blockchain-Startups angesiedelt wie hier. Der Bundesrat täte gut daran, seine Pläne zu überdenken und den Blick nach Zug zu richten.