Max Dohner erinnert ans alte Jahr, das kaum jemand gut findet, mit seinen Folgen fürs neue: «Keine Stimme mit Vernunft wird so laut wie jene, die sich nur um Deutungshoheit balgt und das verkündet mit den Allüren eines TV-Druiden. Trotzdem müssen vernünftige Stimmen unbedingt lauter werden.»
Shreddern, verbrennen und als Sondermüll auf ewig verlochen: So soll man verfahren mit dem Jahr 2016, das heute zu Ende geht. Nicht jeder denkt so radikal. Aber breite Meinung ist, wenigstens in den «sozialen Medien»: 2016 war ein Jahr zum Speien.
Nun leben die Leute, die das Jahr verfluchen, nicht etwa in Aleppo, Caracas oder Uganda, nicht in den Slums von Manila. Es sind Leute aus verglasten Häusern, mit dickem Erbfundament und noch dickerem Panikroom, denen in hundert Jahren nie was passiert. Wohlstandsverwalter und Freizeit-Moralisten, die überall hip-vip unter ihresgleichen bleiben: am Filmfestival Locarno, beim Kuschelkrach von AC/DC in der Lounge des Stade de Suisse oder beim Shopping an der Art Basel in Miami. Bis hinauf zum WEF in Davos, der Mutter aller Adabei-Viehschauen. Hinterlässt die Zeit dann stinkige Duftnoten – Brexit, Trump, Erdogan, Pegida und Martullo-Blocher –, rümpft der stets casual eingestellte Club verbandelter Mumien wissend die Nase.
Und pudert sich gern auch mit Betroffenheit die Nase: «Ach, die prominenten Toten, die 2016 aufbahrte» – Prince und King (Ali), Lenny und Bowie, eine «Star Wars»-Muse und George Michael ... Schnell posten sie RIP-Fähnchen auf Facebook, stecken Emoji-Kerzen an, die den Flor ihres Accounts mehren. Dabei trennen etwa Leonard Cohen und George Michael Welten. Mit dem einen erloschen Weisheit und Weite, beim anderen schloss sich eine Krankenakte. Beide im gleichen Betroffenheitsnebel zu versenken, zeigt, wie manche Leute zunehmend nach Netflix- und TV-Schablone fühlen, gegängelt durch die «Bewirtschaftung von Emotionen».
Wenn uns 2016 eine Krise bescherte, dann wäre es diese: der Verlust jedes eigenständigen Gebrauchs von Verstand und Herz bei ausserordentlichen Lagen. Wie viel Urteilskraft trauen sich die Leute noch? Ich meine nicht das Maulaffen-Feilhalten, sobald irgendwo etwas kippt mit Getöse. Ich meine das kühle Blut des Einzelnen. Unabhängig von Partei, Geschäft, Lobby oder «Beziehungsnetz» (früher nannte man es «Filz»). Von Erwachsenen darf man das verlangen. Trotz Dauer-Gebrabbel und Gedudel, das keinen anderen Zweck haben kann, als uns die Birne bis zum Schwachsinn aufzuweichen und uns retro in die Infantilität zu stossen (heute nennt mans wieder «Heimat», und ihr Büttel ist der «Heimatfilm», dieses Jahr massiv aufmunitioniert, unter anderen mit «Heidi» und «Gotthard»).
Gibt es die Leute nicht mehr, deren Haltung nicht schwankt, je nach Richtung von Lautsprecher oder Mikrofon? Mutig genug, auch mal ein Wort zu äussern, das aufspringt zwischen träger Hirnmechanik wie eine geheime Feder? Leute mit Einfällen und Fantasie, die Grips und Geist aus sich selber kratzen, nicht überallher zusammenklauen, deren «Kommunikations»-Gesalbe man nicht zum Voraus herbeten kann, auf die man wieder wirklich neugierig wird?
Es gibt solche Leute, es gibt sie in grosser Zahl. Ich nenne sie mal KMU-Intellektuelle: agile
wache Geister mit Erfahrung und pragmatischem Gespür. Kluge Einzelkämpfer mit guter Allgemeinbildung, die nicht im Sold von Too-big-to-fail-Gebilden stehen, nicht dauernd einen Brand aufpolieren oder gar ihren Namen als Brand entwürdigen. Sie gehören zu den Garanten beruhigender Zeichen im vergangenen Jahr.
Das Dumme ist bloss: KMU-Intellektuelle leben verstreut. Sie halten Kontakt, aber informell, unmerklich, sträflich vernachlässigt von den Massenmedien, die ihren Geschmack und Ansprüchen nur höhnen. Nie werden sie so laut wie jene, die sich um «Deutungshoheit» balgen und uns die Ohren verstopfen mit sub-reflexiven Floskeln, verkündet mit den Allüren von TV-Druiden.Fern von Gilden, Think-Tanks und Universitäten, bildete der Salon einst den lebendigsten Ort für die unterschiedlichsten KMU-Köpfe, segensreich nicht zuletzt für die Allgemeinheit.
2016 riss vollends den Graben auf zwischen sogenannten Wutbürgern und Gschaftlhubern, die weiter global agieren, sich ums Ganze jedoch nicht bekümmern; zwischen diffus Zukurzgekommenen und einer selbstgefälligen Laberelite im Ideologiedämmer. Stärkt sich nicht die Vernunft dazwischen, und zwar zügig, mit all den Stimmen, die es gibt, die sich vermehrt auch melden müssten, dann dürften die kommenden Jahre die langsame Verfinsterung der Zivilisation nur noch beschleunigen.