Analyse
Modus Machterhalt: Merkels Rolle beim Jamaika-Aus

Die FDP bracht die Jamaika-Gespräche ab – doch ob Kanzlerin Angela Merkel unbeschadet aus der Krise herausfindet, ist fraglich. Die Analyse.

Christoph Reichmuth
Christoph Reichmuth
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Bundeskanzlerin Angela Merkel hat eine ihrer grössten Krisen zu bewältigen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat eine ihrer grössten Krisen zu bewältigen.

CHRISTIAN BRUNA

Heute trifft sich SPD-Chef Martin Schulz mit Parteigenosse und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Kanzlerin Angela Merkel hofft, dass sich das Staatsoberhaupt und Schulz bei ihrer Unterredung im Schloss Bellevue finden werden – dass Steinmeier den Parteichef überredet, im Sinne der Verantwortung für das Land die Grosse Koalition mit Merkel einzugehen. Dann wäre alles gut gekommen aus ihrer Sicht. Eine stabile Regierung, an deren Spitze sie steht. Das Szenario Neuwahlen vom Tisch. Das Gespenst der Minderheitsregierung vertrieben.

Doch insgeheim stellt sich Berlin auf Neuwahlen ein. Merkel hat bereits am Montag verkündet, dass sie im Falle von Neuwahlen abermals für die Union in den Ring steigen würde. Eine Flucht nach vorne. Denn was Merkel überhaupt nicht brauchen kann, ist eine Minderheitsregierung. Merkel sieht sich nicht nur als Kanzlerin der Deutschen, sie ist Regierungschefin des wichtigsten Staates in Europa, eine Machtpolitikerin mit internationalem Gewicht.

Sie bewegt sich sicher auf dem internationalen Parkett, weiss, wie man mit einem Putin umgeht und wie man einem Trump begegnet. Sie wird auch deshalb als mächtigste Frau der Welt akzeptiert und angesehen, weil sie einem politisch und wirtschaftlich so stabilen Land vorsteht und unbestritten ist. Diese Rolle in der Welt sieht sie bedroht durch eine möglicherweise instabile Minderheitsregierung.

Wahlen in Deutschland 2017
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FDP-Chef hält an seinem Entscheid fest und erklärt ihn nun genauer.
Siegmar Gabriel im Gespräch mit Angela Merkel "Was immer wir also in den nächsten Wochen auch tun werden - was wir auf keinen Fall machen dürfen, ist, Belege schaffen für die, die sich freuen über die Schwächung einer liberalen und freiheitlichen Weltordnung", mahnte der SPD-Minister am Dienstag im Bundestag in Berlin.
Angela Merkel steht in der Kritik: Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) kritisiert ihre Verhandlungsführung.
Angela Merkel nach ihrem Treffen mit Frank-Walter Steinmeier - nach dem Abbruch der Jamaika-Gespräche steht sie unter Druck.
Die FDP bricht die Jamaika-Sondierungsgespräche am Sonntagabend ab. "Es ist besser nicht zu regieren, als falsch zu regieren", begründete FDP-Chef Christian Lindner den Schritt. Die Gespräche zwischen CDU, CSU, FDP und Grünen dauerten vier Wochen.
Lindner begründete den Schritt mit fehlendem Vertrauen.
"Nach Wochen liegt heute Papier mit zahllosen Widersprüchen, offenen Fragen und Zielkonflikten vor", betonte der FDP-Vorsitzende. Wo es Übereinkünfte gebe, seien diese mit viel Geld der Bürger oder Formelkompromissen erkauft worden.
Bild von den harzenden Gesprächen Grünen-Chef Cem Özdemir (l.), Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU), der FDP-Parteivorsitzende Christian Lindner und Kanzlerin Angela Merkel (CDU) bei der Sondierung in Berlin.
Kanzlerin Angela Merkel (CDU) bedauert das Aussteigen der FDP aus den Jamaika-Verhandlungen. Die Union habe geglaubt, dass man gemeinsam auf einem Weg gewesen sei, bei dem man eine Einigung hätte erreichen können, sagte die CDU-Vorsitzende.
CSU-Chef Horst Seehofer bezeichnete den Abbruch der Sondierungen als "Belastung" für Deutschland. Eine Einigung sei "zum Greifen nahe" gewesen. Auch bei der Migrationspolitik - eines der umstrittensten Themen in den Sondierungen - wäre eine Einigung möglich gewesen.
Die Grünen-Spitze mit Cem Oezdemir und Katrin Göring-Eckardt wirft der FDP vor, sich vor ihrer Verantwortung gedrückt zu haben. "Ein Bündnis hätte zustande kommen können", sagte Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt. Bei Klimaschutz, Landwirtschaft und Migration sei man am Ende näher beieinander gewesen, als man es gedacht hätte. Parteichef Cem Özdemir sagte, die Grünen hätten bis zur letzten Sekunde die Bereitschaft gehabt, eine Koalition zu bilden. "Ein Partner hatte diese Bereitschaft nicht."
SPD-Chef Martin Schulz will nach wie vor keine Grosse Koalition mit CDU/CSU eingehen "Wir scheuen Neuwahlen nicht", sagt der SPD-Chef bei einem Statement am Montag.
Die Flagge des deutschen Bundespräsidenten weht vor düsterem Himmel: In der unübersichtlichen politischen Lage nach dem Scheitern der Koalitionsverhandlungen kommt Frank-Walter Steinmeier eine Schlüsselrolle zu.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier kommt nun eine Schlüsselrolle zu – am Montag äusserte er sich zur Lage.
Am Montag trifft sich Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.
Sie trafen sich in seinem Amtssitz Schloss Bellevue in Berlin.
Steinmeier ruft die Parteien auf, sich erneut um eine Regierungsbildung zu bemühen: "Wer sich in Wahlen um politische Verantwortung bewirbt, der darf sich nicht drücken, wenn man sie in den Händen hält."
Steinmeier kündigte an, er werde in den kommenden Tagen Gespräche mit den Vorsitzenden aller an den bisherigen Sondierungen beteiligten Parteien führen - also auch mit den Chefs von CSU, FDP und Grünen.
Das Aus der Sondierungsgespräche löst bei Deutschlands Nachbarn Besorgnis aus Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sagte: "Es ist nicht in unserem Interesse, dass sich das verkrampft." Macron setzt sich für eine Reform der EU ein und ist dazu auf eine stabile Regierung in Deutschland angewiesen.

Wahlen in Deutschland 2017

JESCO DENZEL / GERMAN GOVERNMENT HANDOUT

Keine Lust auf Experimente

Es ist aber nicht nur die Furcht vor Instabilität, warum Merkel Neuwahlen als das kleinere Übel betrachtet. In einer Minderheitsregierung könnte die Kanzlerin nicht mehr quasi widerstandslos ihre Politik betreiben. Sie müsste um Mehrheiten kämpfen. Renommierte Zeitungen haben Merkel «Arroganz der Macht» vorgeworfen, weil sie politische Debatten scheue und die Bürger von Prozessen ausgrenze. Flüchtlingskrise, Euro-Rettung, Atomausstieg, Ehe für alle, in diesen wichtigen Feldern hat Merkel eine Strategie festgelegt, ohne sich diese vorher in einer tiefgreifenden Debatte vom Parlament bestätigen zu lassen. In einer Minderheitsregierung wäre nichts «alternativlos», bräuchte es die harte Auseinandersetzung. Merkel scheint keine Lust auf dieses Experiment zu haben.

Merkel müsste in einer Neuauflage eines Wahlkampfes eine neue Wahlkampfstrategie einschlagen. SPD-Chef Martin Schulz warf Merkel im Frühsommer einen «Anschlag auf die Demokratie vor». Gemeint hat der SPD-Chef Merkels Taktik, allzu kontroverse Themen gar nicht erst anzusprechen, um bloss nicht die Wähler der politischen Konkurrenz zu mobilisieren. Diese Strategie würde in einem abermaligen Wahlkampf kaum mehr reichen, um Merkels Union eine Mehrheit zu garantieren. Nach dem Scheitern der Sondierungen wird sich die Kanzlerin mit einer Koalitionsaussage in den Wahlkampf begeben müssen. Ein Bündnis mit der FDP ist kaum mehr denkbar, nachdem FDP-Chef Christian Lindner die Kanzlerin bei den Sondierungen brüskiert hat. Merkel dürfte demnach für ein Bündnis mit den in Migrationsfragen liberal aufgestellten Grünen werben. Laut dem Politikwissenschafter Werner Patzelt von der TU Dresden wäre das nicht ohne Risiko: «Das wird die AfD weiter stärken», sagt er.

«Die AfD geradezu gemästet»

Merkel gehe nach den Verlusten bei den Wahlen im September und dem Scheitern der Sondierungen als angeschlagene Regierungschefin in allfällige Neuwahlen, so Patzelt weiter. «Sie wird dieses Mal zentrale politische Themen wie Migration und Integration nicht mehr aus der Debatte raushalten können.» Patzelt sieht die Schuld für die Schwierigkeiten, stabile Verhältnisse zu schaffen, bei der Kanzlerin. Durch ihre Art des «arroganten Durchregierens» der letzten Jahre und ihre Flüchtlingspolitik vom Spätsommer 2015 habe Merkel zur «Auffächerung des deutschen Parteiensystems» wesentlich beigetragen. «Sie hat die AfD geradezu gezüchtet und gemästet durch ihre Politik.»

Viele prophezeien Merkels baldiges Ende an der Regierungsspitze. Die 63-jährige Physikerin hat in ihrer Karriere schon öfter Kritiker Lügen gestraft. Ob sie allerdings dieses Mal unbeschadet aus der Krise herausfinden wird, ist fraglich. Das Land steuert unsicheren Zeiten entgegen. Eine Instabilität, die kaum von Dauer ist, beschwichtigt Werner Patzelt. «In Deutschland herrscht praktische Vernunft vor. Auch wenn Merkel abtritt, es wird weitergehen.»