Gastkommentar
Migrationspakt: die Regierung vertritt die Schweiz

In seinem Gastkommentar schreibt Georg Müller, emeritierter Professor für Staatsrecht, Verwaltungsrecht und Gesetzgebungslehre über die Gewaltenteilung in der Aussenpolitik.

Georg Müller
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Georg Müller: «Würde der Bundesrat den Entscheid über den umstrittenen Migrationspakt der Bundesversammlung überlassen, wären die Folgen gravierend.» (Archivbild)

Georg Müller: «Würde der Bundesrat den Entscheid über den umstrittenen Migrationspakt der Bundesversammlung überlassen, wären die Folgen gravierend.» (Archivbild)

KEYSTONE/POOL/ANTHONY ANEX

Der Migrationspakt ist der Entwurf einer internationalen Vereinbarung, der unter Führung der Generalversammlung der UNO erarbeitet wurde, um alle Dimensionen der weltweiten Migration abzudecken. «Die den Pakt schliessenden Staaten verpflichten sich, gemeinsam darauf hinzuwirken, dass die Situation potenzieller Migranten einerseits in den Herkunftsländern auskömmlicher gestaltet wird, damit sie nach Möglichkeit dort bleiben können, und dass andererseits – während und nach der gegebenenfalls doch stattfindenden Wanderung – unterwegs und in den Ankunftsländern ihre Menschenrechte gewahrt werden.

Da die aus dem Pakt resultierenden Verpflichtungen für die Unterzeichnerstaaten rechtlich nicht bindend sind, bleibt die Umsetzung von den politischen Konstellationen und Vorgaben auf nationalstaatlicher Ebene abhängig» (zitiert nach Wikipedia).

Man kann geteilter Meinung sein darüber, ob die Schweiz diesem Pakt beitreten soll oder nicht. Rechtlich fragwürdig ist nach meinem Dafürhalten, dass versucht wird, dem Bundesrat die Unterzeichnung dieses Vertrages zu verbieten oder gar den Entscheid darüber der Bundesversammlung vorzubehalten. Nach Art. 184 Abs. 2 der Bundesverfassung unterzeichnet der Bundesrat die Verträge.

Die Bundesversammlung genehmigt die völkerrechtlichen Verträge; ausgenommen sind Verträge, für deren Abschluss aufgrund von Gesetz oder völkerrechtlichem Vertrag der Bundesrat zuständig ist (Art. 166 Abs. 2 der Bundesverfassung). Als völkerrechtliche Verträge gelten Abkommen zwischen Staaten, die Rechte und/oder Pflichten begründen, die dem internationalen Recht unterstehen. Andere Handlungsformen, bei denen sich die Staaten rechtlich nicht verpflichten wollen (z. B. gemeinsame Absichtserklärungen mit bloss politischer Bindungswirkung, sog. «soft law»), fallen nicht darunter.

Nach dieser bisher unbestrittenen Auslegung handelt es sich beim Migrationspakt nicht um einen völkerrechtlichen Vertrag, der vom Parlament genehmigt werden muss. Auch bei Verträgen ist der Bundesrat und nicht die Bundesversammlung für die Unterzeichnung zuständig; die Bundesversammlung hat erst nachher über die Genehmigung zu befinden.

Diese Aufteilung der Zuständigkeiten im Bereich der Aussenpolitik ist sinnvoll, weil nur die Regierung, nicht aber das Parlament die Schweiz gegenüber aussen vertreten und mit anderen Staaten verhandeln kann; das Parlament ist dazu nicht geeignet. Im Übrigen trägt diese Zuständigkeitsordnung auch zur Machtteilung auf dem Gebiet der Aussenpolitik bei.

Die Bundesversammlung übt die Oberaufsicht über den Bundesrat und die Bundesverwaltung aus. Diese Oberaufsicht bezieht sich auch auf die Aussenpolitik. Sie kann also die Handlungen des Bundesrates, z. B. die Unterzeichnung von Verträgen oder von Absichtserklärungen in der Form von «soft law», kritisieren, nicht aber dem Bundesrat diese Handlungen untersagen oder an seiner Stelle selbst entscheiden.

Möglich wäre auch, die Zuständigkeitsordnung in dem Sinne zu ändern, dass inskünftig «soft law» ebenfalls von der Bundesversammlung genehmigt werden müsste. Eine solche Änderung müsste wohl durch eine Revision der Verfassung (mit Zustimmung von Volk und Ständen) erfolgen. Eine Ausdehnung der Genehmigungspflicht durch eine andere Auslegung der Bundesverfassung wäre nach meiner Ansicht nicht zulässig.

Die Bundesversammlung ist zwar (unter Vorbehalt der Rechte von Volk und Ständen) die «oberste Gewalt» im Bund (Art. 148 der Bundesverfassung). Das bedeutet aber nicht, dass sie die verfassungsrechtliche Gewaltenteilung missachten und alle Geschäfte an sich ziehen kann, die ihr politisch besonders bedeutsam scheinen oder bei welchen sie eine andere Auffassung hat.

Der Bundesrat kann auch nicht auf eine Zuständigkeit «verzichten» und einen Entscheid – z. B. über den umstrittenen Migrationspakt – der Bundesversammlung überlassen. Die Folgen eines solchen Vorgehens wären gravierend: Die Rechtssicherheit würde gefährdet und die Verantwortlichkeiten der Behörden würden verwischt.