«Es wäre interessant zu wissen, ob die Regierung eine Agenda hat – und, wenn ja, welche», schreibt unser Autor in seiner Analyse zum Zustand Italiens. Einem Land, das keinen Plan zu haben scheint.
vor ziemlich genau einem Jahr beschloss der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi, nicht mehr zu regieren, sondern nur noch zu verwalten. Der Grund: Aus Rücksicht auf das für den Dezember 2016 angesetzte Referendum über die Verfassungsreform erschien es dem Premier klüger, auf weitere Reformen oder Einschnitte zu verzichten: Bei der Abstimmung, deren Ausgang er mit seinem politischen Schicksal verbunden hatte, zählte jede Stimme. Statt Zumutungen für die Stimmbürger gab es in der Folge bloss noch Wahlgeschenke an alle möglichen Gruppen und Lobbys.
Die Rechnung ging nicht auf: Die Verfassungsreform wurde abgelehnt, und Renzi musste wohl oder übel zurücktreten. Die Abstimmung vom 4. Dezember war ein politisches Erdbeben; jetzt folgte das erwartete Nachbeben: Der linke Flügel von Renzis sozialdemokratischem Partito Democratico (PD) spaltete sich ab. Die Parteilinke hatte gehofft, dass der ungeliebte Renzi nicht nur als Premier, sondern gleich ganz von der politischen Bildfläche verschwinden würde. Den Gefallen tat Renzi seinen Gegnern nicht – und so kehrten sie der Partei, die sie selber mitgegründet hatten, den Rücken.
Renzis Nachfolger an der Regierungsspitze, Paolo Gentiloni, macht das, was sein Vorgänger Renzi zuletzt getan hatte: Er verwaltet. Und er schweigt – zu allem: Kein Sterbenswörtchen zur Spaltung seiner Partei, zur Bankenkrise, zur (wieder einmal) trudelnden Alitalia und sogar zum Thema vorgezogene Neuwahlen, das ihn und seine Regierung direkt beträfe. Dabei wäre es interessant zu wissen, ob die Regierung eine Agenda hat – und, wenn ja, welche. Denn Italien gilt inzwischen wieder als «kranker Mann Europas»: Die Staatsverschuldung beträgt über zwei Billionen Euro, das Bruttosozialprodukt liegt 8 Prozent, die Investitionen liegen 28 Prozent und die Arbeitsproduktivität 6 Prozent tiefer als vor zehn Jahren. Die Arbeitslosigkeit wird auf absehbare Zeit zweistellig bleiben. Bezüglich der chronischen Wachstumsschwäche sind kein Plan und keine Strategie erkennbar. Dasselbe gilt für die Finanzpolitik: Die Regierung konnte bisher noch nicht einmal darlegen, wie sie die von der EU-Kommission verlangte Mini-Korrektur von 3,4 Milliarden Euro im Haushalt 2017 vorzunehmen gedenkt.
Die Funkstille in den Römer Regierungspalazzi liegt auch daran, dass die Exekutive, was ihren zeitlichen Horizont anbelangt, in der Luft hängt: Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht Neuwahlen gefordert werden. Besonders eilig haben es die Protestbewegung von Beppe Grillo und die Lega Nord. Aber auch Gentilonis Parteifreund Renzi, der sein sehnlichst erhofftes Comeback vorbereitet, hatte wiederholt gefordert, bereits in diesem Frühling zu wählen. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass die Legislatur ihr natürliches Ende im Frühling 2018 erreicht und erst dann gewählt wird. Das liegt vor allem daran, dass gar kein Wahlgesetz vorliegt, mit dem man wählen könnte. Das Parlament verhält sich in dieser Frage noch phlegmatischer als die Regierung: Die zuständigen Kommissionen haben noch kein einziges Mal getagt.
Unabhängig vom neuen Gesetz steht aber schon heute fest, dass die Parteispaltung dem PD geschadet hat: In Umfragen kommt die grösste Regierungspartei, die bei den Europawahlen 2014 über 40 Prozent der Stimmen erhalten hatte, noch auf 27 bis 28 Prozent. Ende April wird in Vorwahlen entschieden, ob Renzi nochmals als Parteichef und Spitzenkandidat wiedergewählt wird. Das ist wahrscheinlich, aber nicht sicher. Die «Grillini», denen die Affären ihrer Römer Bürgermeisterin Virginia Raggi offenbar nichts anhaben können, liegen mit 28 bis 29 Prozent in den Umfragen nun knapp vor dem PD – und sind damit auf dem Papier stärkste Partei in Italien.
Zwar ist schon heute abzusehen, dass die Bewegung Grillos aus eigener Kraft keine absolute Mehrheit im Parlament erringen wird. Doch das ist nur auf den ersten Blick beruhigend. Denn ein Wahlsieger Grillo liesse sich kaum in eine Koalition mit einer der traditionellen Grossparteien zwingen: Es droht Unregierbarkeit. Denkbar ist auch ein zweites Szenario, mit ähnlich hohem Grusel-Faktor: eine Koalitionsregierung der euroskeptischen «Grillini» mit der Lega Nord als Juniorpartner. Noch fehlen für eine derartige Liaison 5 bis 6 Prozentpunkte, was aber zum heutigen Zeitpunkt wenig besagt. Die Kombination entspräche in Stil und Inhalt einer italienischen Variante des Trumpismus. Bei diesem Szenario hätte Europa ein neues Problem. Die Bezeichnung dafür existiert bereits: Italexit.