Kolumne über unsere Beziehung zum digitalen Fortschritt.
Eine hungrige Angespanntheit durchdringt mich und labt sich an meiner Konzentration wie zwei Dutzend Steinerschülerinnen und -schüler an einem Geburtstagskuchen, der nicht mit Datteln gesüsst wurde. Eine Unruhe, die den Nervus vagus fast zum Bersten bringt. Es ist das Gefühl, das man mit Anfang zwanzig viel zu oft während des Hin-und-her-Tigerns auf der WG-Toilette verspürte, während man alle vier Sekunden auf das kleine Fenster auf dem Plastiktest starrte in der Hoffnung, es möge einem nicht ein Strich durch die Rechnung gemacht werden.
Genau dieses Gefühl hat sich heute in mein Hirn und Herz genistet, weil ich einen Flug buchen muss. Diese Panik, dass man ein falsches Datum anklickt oder vergisst, ein Gepäckstück dazuzubuchen bzw. die schwerwiegende Entscheidung treffen muss, ob man jetzt wirklich für 40 Franken pro Flug noch einen Koffer dazubuchen soll oder ob man eine Woche Urlaub mit dem Inhalt eines maximal 40×45×20-Weekenders hinkriegt. Meine Unruhe steigert sich auf Level «auf Unterlippe rumkauen». Unter einem meiner angewählten Flüge blinkt plötzlich etwas auf. Es seien nur noch fünf Plätze zu diesem Preis erhältlich, und ich spüre schon, wie gleich ein Fenster erscheint mit der Information: «Die Sitzung ist abgelaufen, bitte loggen Sie sich erneut ein.»
Ich bin noch knapp ein Digital Native, wir waren noch nie in einem, wie heisst das genau, wo man seine Reisen bucht, Touristenbüro, wir kennen es also gar nicht anders. Ob Online- Banking, Steuern online ausfüllen oder die Frage an der Self-Check-out-Kasse «Haben Sie alle Waren gescannt?». Alles Dinge, die mich mit einem angespannten Gefühl entlassen. Immer diese Angst, etwas vergessen oder falsch angeklickt zu haben und deshalb mit einem Fuss im Gefängnis zu stehen. Für mich fühlt sich jede zweite digitale Errungenschaft nach NOCH mehr Verantwortung und einer Überanstrengung meines Hypothalamus an.
Auch der ständige Druck, genug Sport zu machen, weil sonst das FitBit höhnisch die zu wenigen Schritte mit einem Vibrieren am Handgelenk zum Ausdruck bringt und all die Termin-Reminder, die meine E-Mail-Lesegeschwindigkeit mit einem Hektik-Schleier vernebeln. Aber jesses nochmal, in jedem zweiten TED-Talk heisst es doch, man solle Stress vermeiden, weil er krank und unsympathisch macht oder zu Schlafstörungen und einem schwachen Immunsystem führt. Er begünstige sogar das Wachstum einiger grauer Haare, zumindest bei mir.
Das System, das Stress auslöst, wäre eigentlich genial. Durch eine echte oder empfundene Gefahr wird in unserem Hirn eine Kaskade an Hormonen in Wallung gebracht, die Nebenniere schüttet daraufhin Adrenalin und Cortisol aus, wodurch unser Herz schneller zu schlagen beginnt, um mehr Blut bzw. Sauerstoff zu transportieren, wir bekommen einen Tunnelblick, unsere Lungen erhöhen ihre Aktivität und die Muskeln spannen sich an. (Hier ein kurzes «Danke, WikiPedia, für all diese Infos über Stress».) Wir sind bereit, entweder zu flüchten oder zu kämpfen gegen Säbelzahntiger oder Löwen. Nur greift das System leider auch bei Dingen wie FOMO oder wenn eine E-Mail vom Chef kommt mit dem Betreff «Wir müssen reden». Auf unseren Smartphones sollte das Abrufen von E-Mails deaktiviert werden, weil wir ja selbst offenbar die Disziplin nicht haben, auf gesunde Weise mit der Online-Welt umzugehen, und anstatt dass Push-Nachrichten angezeigt werden, könnte man jeden zweiten Tag einen Friendly Reminder bekommen, 20 Minuten meditieren und eine Babykatze streicheln.
All diese digitalen Fortschritte heben sich in meiner Welt gegenseitig auf. Dass man sein Flugticket auf sein Mobilphone laden kann – toll. Es bedeutet für mich aber auch, dass ich sehr leiden werde am Abreisetag, da ich vor lauter WhatsApp-Voice-Messages-Abhören meine Powerbank vergesse. Dann tigere ich in der Flughafen-Wartehalle hin und her und schaue alle vier Sekunden auf den Akku-Balken, in der Hoffnung, es würde dieses Mal bitte halten, und schicke tausende Stossgebete gen Himmel und verspreche dem Akku-Gott, dass ich das nächste Mal besser aufpasse. Ich entscheide mich definitiv für Online-Flucht statt Kampf, mein Reiseziel musste deshalb auch nur ein Kriterium erfüllen: kein Internet vorhanden.