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Meinung
Kommentare AZ/BT
Noch herrscht Ruhe im Gesundheitssystem. Noch ist die Welle nicht angekommen. Mitten in der Corona-Krise meldet der Kinderarzt auf der Notfall-Station: "Kommen Sie ruhig vorbei mit Ihrem Sohn. Ist eh nicht viel los."
Weinend schleppt er sich nach Hause. Sein Klagen ist so laut, dass ich von innen die Haustüre öffne, bevor er überhaupt dazu kommt. Der Erstklässler schluchzt und der Rotz läuft ihm runter. Mit der rechten Hand stützt er den linken Arm: «Ich bin umgefallen. Mit dem Scooter.» Wie zum Beweis krempelt er den Ärmel des Pullovers hoch und zeigt auf die Schürfungen.
Unsere beiden Jungs, 9 und 7, haben ein Talent entwickelt, immer dann Unfälle zu produzieren, wenn die Praxis der Kinderärztin geschlossen ist. Sei es am Wochenende - oder wie in diesem Fall - am Abend. Und die Jungs verunfallen häufig. Da bleibt jeweils nichts anderes übrig, als in den Notfall des Spitals zu fahren. Aber jetzt? In dieser Corona-Krise? Ist es verantwortungsvoll, sich in an den Ort zu begeben, wo die Viren-Population besonders hoch ist? Ist es solidarisch gegenüber den Corona-Patienten, das stark ausgelastete medizinische Personal zu behelligen, ohne zu wissen, ob es sich um eine ernsthafte Verletzung handelt? Und ist es in diesem Fall rücksichtsvoll, die Ressourcen des Spitals anzuzapfen, wo doch alles dem Kampf gegen das Virus und der Pflege der erkranken Menschen untergeordnet werden soll?
Nein, ist es nicht. Deshalb wird erst mal zu Abend gegessen.
Aber der Arm des Erstklässlers führt ein Eigenleben. Er ist nicht im Corona-Virus-Modus. Er nimmt keine Rücksicht auf all die Betten und Ärzte und Pflegefachleute und Geräte, die es jetzt braucht. Er schwillt an. Unaufhörlich. Was tun? Die Prinzipien ignorieren? Der Arm wird doch nicht etwa gebrochen sein?
Ich sage, ins Spital. Meine Frau sagt, nein. Warten bis morgen und dann zu jenem Kinderarzt, der gerade Pikettdienst hat. Das geht hin und her. Und eigentlich müssten die Kinder ins Bett. Ich sage, ich rufe jetzt das Spital an, um zu fragen, ob sie unseren Sohn in nützlicher Frist überhaupt untersuchen können.
Die Frau in der Notfallzentrale verbindet mich mit einem Arzt der Kinderstation. Insgeheim stelle ich mich darauf ein, dass am anderen Ende der Leitung ein überarbeiteter, gestresster Arzt sitzt, der im Morgengrauen mit Corona im Kopf aufsteht und tief in der Nacht mit Corona im Kopf ins Bett geht; der mich schliesslich als Ignoranten beschimpft und sagt, er hätte Wichtigeres zu tun, als sich um einen geschürften Arm zu kümmern.
Aber der Arzt macht, was er sonst, also wenn keine Notlage herrscht, auch tut. Als gäbe es kein Corona. Geduldig erkundigt er sich nach dem Wie, Wo und Wann. Und welche Verletzungen man am verletzten Arm sehen würde. Und ob und wie stark der Arm geschwollen sei. Und ob das Kind gesund sei – wegen speziellen Vorkehrungen und so. «Kommen Sie ruhig vorbei. Sie brauchen keine Angst zu haben, ein verseuchtes Spital zu betreten. Ausserdem ist hier nicht viel los», sagt der Arzt.
Echt jetzt? Na gut, ins Auto und los. 15 Minuten später biege ich auf den Parkplatz vor dem Notfall des Kantonsspitals Baden ein. Eine bekannte Umgebung und doch ist einiges anders als sonst. Kaum Autos auf dem Parkplatz und ein Mann, der die Türe bewacht.
Der Mann blickt auf den notdürftig und etwas schludrig verbundenen Arm des Siebenjährigen und nickt nur. Drinnen dann die grosse Überraschung: Der Notfall ist leer. Kein Mensch. Das gabs noch nie. Jedenfalls nicht, wenn ich hier war – was in den letzten fünf Jahren bestimmt zehn Mal der Fall war.
Nach der Anmeldung hoch zum Kindernotfall. Auch dort Leere. Keine wartenden Patienten. Quasi exklusive Behandlung für Allgemeinversicherte. Nach einer ersten Behandlung, röntgen und Arm eingipsen – ja, er ist gebrochen – wünscht die Pflegefachfrau eine gute Nacht. Ebenfalls. Und sie sagt: «Ja, heute kann ich wohl früher nach Hause, Kräfte sparen für die Welle, die uns in den nächsten Tagen erreichen wird.»
Es ist nur eine Episode, nur ein klitzekleiner Einblick in unseren neuen, veränderten Alltag. Aber er stimmt zuversichtlich, dass wir die Situation als das annehmen, was sie ist: bedrohlich. Die Geschichte zeigt auch, dass Werte wie Solidarität, Toleranz und Verantwortung nicht nur vom Gegenüber eingefordert, sondern gelebt werden. Allein, weil man jetzt nicht wegen jeder Bagatelle ins Spital rennt.
PS: Während ich im Büro-Exil diese Zeilen schreibe, erreicht mich von zu Hause die SMS, dass unser 18-jähriger Kater eingeschläfert werden musste. Danke, Frau Tierärztin, dass Sie trotz Corona zu uns nach Hause gekommen sind und unseren Kater von seinen Leiden erlöst haben.