Analyse
Entführungsfall Anna: Der missachtete Kindeswille

Der Vater in Bremgarten, die Mutter will nach Mexiko, das Kind soll mit ihr gehen. Es will aber nicht, sondern beim Vater bleiben. Das Obergericht des Kantons Aargau sah das auch so, wurde aber von den nächsten Instanzen überstimmt. Der Fall scheint symptomatisch: Schweizer Gerichte gehen oft über den Willen der betroffenen Kinder hinweg.

Kari Kälin
Kari Kälin
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Der Vater und die Grossmutter von Anna wurden vom Gericht verurteilt, weil sie das Kind «entführten».

Der Vater und die Grossmutter von Anna wurden vom Gericht verurteilt, weil sie das Kind «entführten».

Colin Frei.

Das Verdikt ist gesprochen. Das Bezirksgericht Baden hat Beni Hess und seine Mutter Martina vor zwei Wochen wegen Entführung der eigenen Tochter respektive Enkelin zu bedingten Freiheitsstrafen verurteilt. Dass Anna (Name geändert) viel lieber bei ihrem Vater in der Schweiz anstatt bei ihrer Mutter in Mexiko leben wollte, ist aus strafrechtlicher Optik irrelevant; als Minderjährige kann sie nicht in ihre Entführung einwilligen.

Am Anfang der Geschichte steht ein Konflikt zwischen getrennten Eltern. Beni Hess zog 2014 mit der damals achtjährigen Anna ins aargauische Bremgarten. Die Mutter verlangte die Rückführung ihrer Tochter nach Mexiko gemäss einem internationalen Kindesschutzabkommen. Beni Hess lehnte dies ab, weil es Anna in der Schweiz besser gefiel und sie sich vor der grassierenden Kriminalität in Mexiko fürchte. Am Donnerstag, 19. Februar 2015, entschied das Obergericht des Kantons Aargau auf Annas Verbleib in der Schweiz.

In diesem zivilrecht­lichen Verfahren ist der Wille eines Kindes – anders als im Strafrecht – grundsätzlich kein vernachlässigbarer Faktor. Das Verfahren stand jedoch von Anfang an unter einem schlechten Stern. Der fallführende Oberrichter Guido Marbet riet der Mutter, ihren geplanten Rückflug nach Mexiko auf Freitag vorzuverschieben und auch gleich noch ein Ticket für Anna zu buchen. Offenbar rechnete er fest damit, das dreiköpfige Gericht würde Annas Rückführung anordnen.

Der emeritierte Zivilrechtsprofessor Andreas Bucher kritisierte diese Praxis in der Schweizerischen Zeitschrift für internationales und europäisches Recht scharf. Es gehe darum, die Beschwerdemöglichkeit vor Bundesgericht auszuhebeln.

Marbet wurde aber im dreiköpfigen Spruchkörper überstimmt. Das Aargauer Obergericht respektierte Annas ausgeprägten Willen nach einer Zukunft in der Schweiz. Doch das Bundesgericht kippte das Urteil nach einem Rekurs der Mutter.

Anfang Mai 2015 tauchte Anna mit ihrer Grossmutter in Frankreich unter, um die jetzt unmittelbar drohende Rückführung zu vermeiden. Nach dem Ende der knapp zweiwöchigen Flucht betonte sie gegenüber Behörden, Gerichten und Ärzten erneut und immer wieder, unbedingt in der Schweiz wohnen zu wollen.

Das Aargauer Obergericht sistierte vorerst die Rückführung und bestellte ein kinderpsych­iatrisches Gutachten. Die Familie väterlicherseits erhielt ein Kontaktverbot. Anna, so die Idee, sollte wieder ein Vertrauensverhältnis zu ihrer Mutter aufbauen und sich der gerichtlich festgestellten Manipulation ihres Vaters zu entziehen.

Das Obergericht liess nicht etwa abklären, ob Annas Wille auch das Resultat eigener Überlegungen hätte sein können. Vielmehr wollte es primär wissen, ob ihr ein Rückflug nach Mexiko zugemutet werden könne. Der Psychiater gab dafür grünes Licht und lieferte das erwünschte Resultat, obwohl er gleichzeitig festhielt, es bestehe weiterhin die Gefahr, dass sie sich gegen ihre Rückführung wehren werde.

Ein Gesuch des Vaters um den Verzicht auf die Rückführung schmetterten das Aargauer und Obergericht und das Bundesgericht ab. Die Justiz stierte ein Unterfangen durch, das offensichtlich dem Kindeswohl widersprach.

Dieses deprimierende Fazit irritiert umso mehr, als sich die Schweiz mit der Unterzeichnung der Uno-Kinderrechtskonvention verpflichtet hat, die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter zu berücksichtigen. Niemand zweifelte, dass Anna für ihr Alter ein erstaunlich reifes Mädchen war. Dennoch ignorierten die Gerichte – abgesehen vom ersten Entscheid des Aargauer Obergerichts – Annas Willen konsequent.

Offensichtlich handelt es sich nicht um einen Einzelfall. Auf jeden Fall empfiehlt der UNO-Kinderrechtsausschuss der Schweiz, dafür zu sorgen, dass der Meinung der Kinder in Gerichts- und Verwaltungsverfahren künftig besser Rechnung getragen wird.

Annas vermeidbare Odyssee fand ein glückliches Ende. 2018 floh sie mit ihrem Vater erneut von Mexiko in die Schweiz. Dieses Mal taxierte sie das Bundesgericht als reif genug für eine autonome Willensbildung.