Sprachriff
Empathie und Prämienschock

Heimito Nollé
Heimito Nollé
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Mitgefühl war einst die selbstverständlichste Sache auf der Welt. Man hatte es oder man hatte es nicht, aber niemand bezweifelte, dass es so etwas wie ein Mitleiden mit Mensch und Kreatur gab. Heute nennen wir das Empathie, und ein Heer von selbstberufenen Experten gebärdet sich, als habe es den Stein der Weisen entdeckt. Inzwischen ist die Empathieforschung ein blühender Zweig, und ihre Exponenten füllen Talkshows, Managerseminare und Zeitungskolumnen.

Empathisch wollen sie alle sein: Politiker, die den Wählern ihre Menschlichkeit beweisen wollen; Manager, die nicht mehr als kaltschnäuzige Rationalisierer wahrgenommen werden möchten, sondern Wert darauf legen, die Leute empathisch auf die Strasse zu befördern; Social-Media-Promis, die sich mit herzerwärmenden Solidaritäts-Posts ein paar Likes mehr ergattern.

Auch die Versicherungen, seit je begnadete Kundenflüsterer, haben den Wert des Mitgefühls entdeckt. Im Werbespot der CSS heisst es: «Eine der schönsten Eigenschaften des Menschen: Sein Einfühlungsvermögen». Das ist rührend, ist doch im Herbst der Leidensdruck der Versicherten angesichts explodierender Prämien besonders gross. Empathie, an sich ein schöner Wert, kann leicht zu esoterischem Gefühls- Kitsch verblasen werden. Die Folgeschäden muss dann die Vernunft beheben.