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Heute vor einem halben Jahr erklärte die Weltgesundheitsorganisation Corona zur Pandemie. Die Schweiz hat sich bislang gut geschlagen - und ist in den letzten Wochen zu einem europäischen Sonderfall geworden. Selbstgenügsamkeit wäre jetzt aber das letzte, was wir brauchen.
Ländervergleiche sind zu einem Merkmal der Coronapandemie geworden. Südkorea und Neuseeland tauchten als Musterschüler in den Schlagzeilen auf, Italien und Spanien als besonders tragische Fälle, die USA als Desaster, und dann war da immer wieder Schweden, das Land des Sonderwegs. Und die Schweiz? Ausländische Medien interessierten sich kaum für sie. Umso bemerkenswerter ist nun ein Bericht der Londoner «Financial Times».
Über einem Foto aus Zermatt, das eine Terrasse voller Menschen mit dem Matterhorn im Hintergrund zeigt, steht der Titel:
Aggressive Schweiz lässt Lockdown hinter sich und fokussiert auf die Wirtschaft.
Der britische Autor stellt verwundert fest, dass im «reichen Alpenstaat» die Regeln «stark gelockert» wurden. Grossveranstaltungen seien bald wieder erlaubt, und es werde alles getan, um den Branchen, insbesondere auch dem Tourismus, Schub zu geben. In den vielen Leserkommentaren klingt Bewunderung mit. Umso mehr, als vermerkt wird, die Schweiz grenze an die Hotspots in Norditalien und Frankreich.
Der Aussenblick macht klar, was hier vielen wohl zu wenig bewusst ist: Die Schweiz ist zu einem Sonderfall geworden. Sie ist das neue Schweden. Das bessere Schweden! Denn bezüglich Öffnung haben wir das skandinavische Land zwar mittlerweile in mehreren Punkten überholt (etwa bei Grossveranstaltungen). Aber die Zwischenbilanz der Schweiz ist besser, wie sich nun feststellen lässt – auf den Tag genau ein halbes Jahr, nachdem die Weltgesundheitsorganisation Corona zur Pandemie erklärt hat:
Trotz der Notlüge in der Maskenfrage haben Bundes- und Kantonsbehörden bislang einen guten Job gemacht, das sollten auch die Coronaskeptiker und jene Parlamentarier anerkennen, die diese Woche bei der Beratung des Covid-Gesetzes dem Bundesrat Machtgelüste unterstellten. Entscheidend waren auch unser teures, gut funktionierendes Gesundheitssystem und, bei aller Störrischkeit, das vernünftige Verhalten der Menschen.
Selbstgenügsamkeit ist aber das Letzte, was wir jetzt brauchen können. Am Freitag wurden mehr als 500 Neuinfektionen gemeldet. Im Juni waren es noch unter 50 Fälle pro Tag, im Juli vereinzelt über 200, im August erstmals über 300 und in den ersten Septembertagen wurden die 400er- und nun die 500er-Grenze geknackt. Bange fragt man sich: Wie wird es im nebligen Herbst und im Winter, wenn die Leute drinnen bleiben?
Gewiss, es wird mehr getestet, und die Zahl der Todesfälle verharrt auf tiefem Niveau, ebenso die Hospitalisationen. Und die Sterblichkeit ist verglichen mit der ersten Welle stark gesunken, auf unter 1 Prozent. Doch das Bundesamt für Gesundheit stellt fest, dass wieder vermehrt Senioren erkranken. Die Ausbrüche in Altersheimen sind ein Alarmsignal, allein in einem Freiburger Heim starben sieben Menschen.
Weitere Lockerungen, etwa bei der Dauer der Quarantäne, darf es deshalb im Moment nicht geben. Und wenn ab Oktober Anlässe mit über 1000 Besuchern starten, ist grösste Vorsicht angezeigt. Denn eines darf man nicht vergessen: Die ältere Bevölkerung bleibt verletzlich, auch wenn im Covid-Gesetz die Altersgrenze 65 aus politischer Korrektheit gestrichen wurde. Senioren brauchen Schutz. Und dies, ohne sie zu isolieren. Das geht einzig, wenn die Fallzahlen nicht weiter steigen. Nur dann ist die Schweiz in Europa weiterhin ein Erfolgsmodell.