In seiner Kolumne schreibt Autor und Moderator Reeto von Gunten über die Lehren aus der Fussball-Weltmeisterschaft.
Was ich von der WM gelernt habe: Die Rückspiegel-Pariser im Nationalflaggen-Design sind wieder zurück. Diesmal kommen sie allerdings gemeinsam mit der passenden Kühlerhaubenabdeckung. Nicht alle, die ein Fussball-Trikot tragen, spielen Fussball.
Aber die meisten, die ihr Gesicht bemalt haben, sind wegen der La Ola im Stadion. Es gibt Fussballfans, die Stadium sagen, wenn sie Stadion meinen. Wahrscheinlich waren sie kürzlich im Kolosseum. Videobeweis ist prima. Ihn, ein Rechteck in die Luft fummelnd, vom Schiedsrichter zu verlangen, hingegen nicht. Man sieht dabei aus wie ein quengelndes Kind mit Bildschirmsucht. A propos quengelndes Kind: Neymar.
Alle kennen die erste Zeile der deutschen Nationalhymne «Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt», wissen dabei, dass dies irgendwie glaubs nicht mehr der richtige Text ist, haben aber meistens keinen Schimmer, wie der wirklich geht.
Der Schweizer Standard-Dialog «Für wen bisch?» – «Für d’Schwiiz, natürlich!» – «Und nachher?» muss für die nächste WM auf Spanisch, Portugiesisch, Italienisch, Holländisch und Deutsch übersetzt werden. WM ist das Gegenteil von RS. Dort will man möglichst früh nach Hause. Die meisten, die den Schweizern vorwerfen, dass sie die Nationalhymne nicht singen würden, kommen selber kaum übers Strahlenmeer hinaus.
Wenns nach den Fernsehübertragungen geht, gibt es im Publikum nur drei Sorten Menschen: schöne Frauen, verkleidete Männer oder überforderte Kleinkinder – ausser nach dem Spiel, da dürfen alle vorkommen, vorausgesetzt sie heulen oder feiern. Tränen wirken krasser, wenn sie sich ihren Weg durch eine Gesichtsbemalung fressen. SRFZ steht für Sascha Ruefer-freie Zone. Man sagt «gefühlt» statt «ich übertreibe jetzt mal».
Das liegt wahrscheinlich daran, dass es die sogenannten «Gefühle» nicht mehr gibt — die heissen jetzt «Emotionen». An einem Turnier, ausgerichtet nach Nationen, hat Politik nichts verloren. Jedenfalls nicht auf dem Spielfeld. Die Politik sitzt drecksgeschäfthändchenringend auf der Ehrentribühne. Maradona hat zwei ganz normale Hände. Das ist dann aber auch schon alles, was an ihm normal ist.
Die Schweizer hatten vor allem Ballbesitz. In Sachen Besitz waren wir schon immer Weltklasse. «Weltklasse!» ist das WM-Synonym für «Grosses Kino!». Josip Drmics Jubel nach seinem Tor gegen Costa Rica (und nach dem Doppeladler-Gate) zeugt von überraschender Sensibilität.
Der zensierte Doppeladler war ein Höhepunkt der Nationalmannschafts-Kampagne WM 2018. Das Sommerloch hat einen Durchmesser von unter 68 cm. Ein WM-Ball füllt es nämlich locker aus. Das schönste Fussballlied ist nach wie vor «Football’s coming home». Und es stimmt halt eben auch: Alle kommen heim, irgendwann – am Ende sogar die Weltmeister.
Früher war Auto-Corso mit Hupen, heute Strassenblockade mit Pyro. «Gasprom» heisst auf chinesisch «Wanda» – glaubs. Die schönste Einleitung zu einem Kommentar eines Zuschauers in einer WM-Bar ist weiterhin: «Ich schpile ja sälber nöd, aber ...» (T. Stächelin, WM 2014, Sportsman Club, Zürich).
Ausserhalb der Stadien ist die WM nicht Sport, sondern Anlass. Um sich auf eine Seite oder daraus Profit zu schlagen, um ein Gemeinschaftsgefühl heraufzubeschwören, Gesänge zu grölen oder Uniformen zur Schau zu tragen.
Was auffällt: Überall laut herumprollende saufende Frauen – ’tschuldigung, Männer, natürlich. Alles Männer, ist ja schliesslich eine Männerveranstaltung. «Wenn es wichtig ist, sind wir nicht bereit.» (Valon Behrami) Vier Jahre sind rund 1460 Tage.
Da die richtigen Tage herauszufinden, ist nicht ganz ohne, klar. «Das Fragezeichen ist sehr sehr gross.» (Steven Zuber) Ganz im Gegensatz zum gegnerischen Tor. Eine Fussballmannschaft aus Thailand stahl allen die Show. Offenbar bewirkt eine Höhle mehr Empathie als das Mittelmeer.
Wer kein Tor schiesst, wird zum Doppelbürger. Ein Miescher ist auf Berndeutsch jemand, der unverhältnismässig und unüberlegt reinhaut. Am Ende ists wie nach einer kurzen aber intensiven Beziehung: Man weiss, dass es vorbei ist, aber versucht trotzdem noch, es auszudiskutieren.
Ich freue mich auf die Fussball-WM der Frauen, habe aber keine Ahnung, wann sie stattfindet.