Kommentar
Der Tod ist ein Meister aus Deutschland

75 Jahre nach der Befreiung des Todeslagers Auschwitz-Birkenau – und die zeitlose Ratlosigkeit des Gedenkens.

christoph bopp
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Wachtturm in Auschwitz-Birkenau und Fahnen in den Farben der Häftlingskleider.

Wachtturm in Auschwitz-Birkenau und Fahnen in den Farben der Häftlingskleider.

Czarek Sokolowski/Keystone

Zahlen – besonders dann, wenn sie historische Daten angeben – haben mitunter etwas Gespenstiges. In diesem Jahr begehen wir nicht nur den 75. Jah­res­tag der Befreiung von Auschwitz, sondern auch den 100. Geburtstag (am 23. November) oder den 50. Todestag (am 20. April) des Dichters Paul Celan. Paul Anczel – er sollte später seinen Namen ändern – verfasste wahrscheinlich bereits 1944 oder 1945 sein berühmtes Gedicht «Todesfuge».

Der Text ist eine Auseinandersetzung mit der Judenausrottungspolitik der Nationalsozialisten. Es ist fraglich, ob Celan, dessen Eltern von den Nazis umgebracht wurden, das – kunstvolle – Gedicht später noch hätte schreiben können, als das wirkliche Ausmass dieses Genozids sichtbar war.

Mit «Ausmass» sind weniger die Zahlen gemeint, die monströs genug sind, sondern ein anderer Aspekt. Was auch immer Adorno gemeint hat, als er gesagt hat, dass man «nach Auschwitz» keine Gedichte mehr schreiben könne: Offenbar unterliegt die poetische Kraft des Menschen im eigentlichsten Sinn einem Generalverdacht.

Poiesis ist Tun, Herstellen, Machen. Was Menschen alles mit gestalterischer, organisierender, ordnungschaffender Absicht zu tun in der Lage sind, diese Fähigkeit hat der Mensch schliesslich dazu missbraucht, um seinesgleichen in Massen zu töten.

Paul Celan (1920-1970).

Paul Celan (1920-1970).

CH Media

«Der Tod ist ein Meister aus Deutschland», schreibt Celan und stellt eindrücklich «dein goldenes Haar Margarete / dein aschenes Haar Sulamith» am Ende des Gedichts untereinander. Man muss wissen, dass Celan aus einer deutschsprachigen jüdischen Familie aus Rumänien stammte, und die Frage, wie man in der Sprache des Vernichters dichten könne, sehr ernst genommen hat. Das Hohelied aus dem Alten Testament und Goethes «Faust» – die Spannweite ist gross. Und sie umreisst mehr als nur zwei Kulturstränge, die unheilvoll miteinander verflochten wurden.

Die Ausrottung der Juden war ein barbarisch-bestialisches Projekt, geplant und durchgeführt gerade mit den Methoden, welche man als kulturell und zivilisatorisch hochstehend empfand. Der massenhaft produzierte Tod trat auf als «Meister aus Deutschland», dem Land, das Wissenschaft, Kultur und Technik auf neue Höhen geführt hatte.

Die Nationalsozialisten und ihre mörderische Volks-Ideologie hatten es allerdings fertig gebracht, fast alle Werte und (Sekundär-)Tugenden der Leute zu pervertieren. Der «Meister» ist eben einer, der es gut kann, was immer es auch ist. Und man fragt nicht nach, was er tut, solange es funktioniert. Einer zum Beispiel muss nur die Züge fahren lassen. Zur Zeit müssen sie fahren. Mehr nicht.

Celan baut sein Gedicht auf dem «Wir-Er»-Gegensatz auf. «Er» ist ein Mann des Managements und der Kultur, der «uns» gleichzeitig graben und zum Tanz aufspielen lässt.

Er ruft spielt süsser den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland // er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft // dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng

Celan bestand darauf, dass sein Gedicht keine Metapher sei. Was Menschen einander antun können, da sollte man sich keinen Illusionen hingeben. Genozide hat es immer schon gegeben – genug auch im Alten Testament. Das Monströse an Auschwitz zeigt sich als Unzeitgemässheit. Oft nennt man es einen «Zivilisationsbruch». Aber es ist ja gerade keiner.

Fahrplanmässig fahren die Züge, ordentlich gemanaged die Produktion rund um die Lager, effizient die Erfassung und Deportation der jüdischen Bevölkerung – und natürlich hatte die Juristerei vorher die geistigen Weichen für die Volksgenossen gestellt: Ausgrenzung, Ent-Rechtlichung, Ent-Eignung, Ent-Würdigung, Ent-Lebung.

Gedenken an Auschwitz: Monströser noch als die Durchführung war und ist das kollektive Beschweigen. Alle waren sie Opfer eines Regimes, einer Ideologie, alle nur Fehlgeleitete und Verführte. Begreiflich, denn man muss schliesslich weiter leben. Möglich macht es die Rationalität der Moderne. Zwischen dem Ort, wo Zwecke gesetzt werden, und denen, die es tun, ist genug Raum, um sich zu verstecken.