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Eine Analyse von Inland-Redaktor Sven Altermatt zum Aufstieg der Grünen in Deutschland und was das für die Schweiz heisst.
Nichts ist unmöglich. Kein Satz beschreibt den Zustand der Grünen Partei Deutschlands aktuell besser. Nichts ist unmöglich: Auch nicht, dass die Partei den nächsten Bundeskanzler stellen kann. Derzeit eilt sie von Erfolg zu Erfolg. Bei den Wahlen in Bayern und Hessen ist sie jeweils zweitstärkste Kraft geworden, und auch landesweit nimmt sie in Umfragen diese Position ein. Laut dem aktuellen «Deutschlandtrend» der ARD steigen die Grünen in der Wählergunst auf 23 Prozent, damit liegen sie nur noch knapp hinter der Union von Kanzlerin Angela Merkel.
Nichts ist unmöglich – bei den Schweizer Grünen ebenso? Sukkurs aus dem grossen Nachbarland haben sie kaum nötig. Dem jüngsten SRG-Wahlbarometer zufolge werden sie im Herbst 2019 von allen Parteien am stärksten zulegen können. Trotzdem: Mit einem prognostizierten Wähleranteil von 8,7 Prozent sind die hiesigen Grünen weit von jenen in Deutschland entfernt.
Warum bloss? Wer das verstehen will, sollte sich zuerst den Gemeinsamkeiten der grünen Schwes- terparteien vergewissern. Beide haben den gleichen Markenkern; beide kämpfen für den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen; beide fordern mehr soziale Gerechtigkeit. Und natürlich können beide gerade auf der Hitzewelle reiten. Nach dem heissen Sommer dieses Jahres rückt der Klimawandel, das grosse Thema der Grünen, wieder auf die politische Agenda. Auf dieser stehen ferner nachhaltig produzierte Lebensmittel, der Schutz des Bodens und Wachstumskritik – damit können sich viele identifizieren.
Doch hinter dem Erstarken der Partei steckt mehr. Einst als Fundis in Strickpullovern verschrien, gelingt den Grünen heute eine Politik des Spagats: Sie schaffen es, radikales Pathos und staatstragenden Habitus zu vereinen.
Im Berner Bundeshaus positioniert Parteipräsidentin Regula Rytz die Grünen als Konsenskraft. Dass ihre Vertreter in allen einschlägigen Ratings weit links der Mitte verortet werden, scheint einerlei. Trotz Abwesenheit im Bundesrat kommen die grünen Voten ohne oppositionellen Zack daher. «Vernünftig» ist einer der Ausdrücke, die Rytz oft braucht. Ihre Partei sei gleichermassen weltoffen und lokal verankert, sagt sie im Gespräch.
Man wolle das «herkömmliche Links-Rechts-Schema überwinden», so haben das die Grünen in ihre Statuten geschrieben. Wenn Rytz sich auf «progressive Traditionen wie Ausgleich, Offenheit und Pioniergeist» beruft, klingt das sehr magistral. «Diese Werte gehören zur politischen Kultur der Schweiz, auch im Zeitalter von Globalisierung und Digitalisierung sorgen sie für eine gesunde Bodenhaftung.»
Keiner personifiziert den grünen Zeitgeist besser als Winfried Kretschmann. Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, dem 11-Millionen- Bundesland an der Schweizer Grenze, ist der erste grüne Landesvater und zählt zu den beliebtesten Politikern Deutschlands.
Kretschmann regiert in einer Koalition mit der CDU, er praktiziert eine als gemässigt-moderat etikettierte Öko-Politik. Soeben hat er ein neues Buch vorgelegt: ein Politikrezept. Der aufgeklärte Konservativismus ist nicht schwarz, findet Kretschmann. Er ist grün. Damit bedient er sich eines Wortes, bei dem sich fast alle seiner Parteifreunde vor noch nicht langer Zeit auf die Zunge gebissen hätten. Konservativ? Ein Unding!
«Den Begriff ‹konservativ› würde ich für unsere grünen Werte nicht brauchen», sagt denn auch die Schweizer Parteichefin Regula Rytz. Statt alte Schlagworte zu okkupieren, setze sie lieber auf moderne Begriffe. «Chancengleichheit» etwa. Oder «enkeltauglich».
Für Kretschmann ist «konservativ» derweil das, was Sicherheit und Zuversicht stiftet. Im Laufe seines Lebens sei sein «Respekt vor dem, was die zivilisierte Menschheit schon immer für richtig gehalten hat, stetig gewachsen». Der Konservativismus à la Kretschmann dreht sich einerseits um die natürlichen Lebensgrundlagen. Andererseits um Errungenschaften wie die offene Gesellschaft und den Freihandel, die bewahrt werden müssten. Forderungen nach einer «Leitkultur jenseits unserer gemeinsamen Verfassung und Sprache» seien höchst bedenklich, schreibt Kretschmann. Er plädiert für das Prinzip «Mass und Mitte».
Inhaltlich, sagt Rytz, sei sie mit Kretschmann in vielen Teilen einig. Sie sieht aber auch Differenzen. So argumentiere der gläubige Katholik durchaus religiös, beispielsweise wenn er von «Schöpfung» spreche. «Wir sind da laizistischer unterwegs», sagt Rytz. «Und wir sind machtkritischer. Migration oder Umweltzerstörung fallen nicht einfach vom Himmel, sie werden meist durch Machtmissbrauch und skrupellose Einzelinteressen ausgelöst.» Abweichungen ortet sie zudem bei Kretschmanns Betonung des Heimatbegriffs. «Die Landschaften, die wir kennen und in denen wir uns wohlfühlen», das ist für ihn Heimat. Rytz setzt auf eine offenere Formel: «Unsere Heimat ist die Welt.»
Die deutschen Grünen jedenfalls haben ihren Staat gern und verteidigen dessen Gewaltmonopol seit neustem bei jeder Gelegenheit. «Patriotisch» ist für sie kein Schimpfwort mehr. Über das absolute Nein zur Gentechnik wollen sie diskutieren. Und die Zuwanderung sehen sie zwar weiterhin als Bereicherung für die Gesellschaft, relativieren in ihrem neuen Europa-Wahlprogramm aber: «Nicht alle, die kommen, können bleiben.» Unter ihrem charismatischen Parteichef Robert Habeck wollen die Grünen raus aus der «ökologischen Nischenrolle». Mit Ausnahme von der CSU und der AfD koalieren sie in den Bun- desländern unterdessen mit allen Parteien.
Die Grünen profitieren von einem Vakuum in der deutschen Politik – bei den jüngsten Landtagswahlen war das eindrücklich sichtbar. Das Vertrauen in die traditionellen Volksparteien CDU und SPD schmilzt, aus beiden Lagern wanderten Hunderttausende Wähler zu den Grünen ab, und geradezu untrennbar ist die Krise der Sozialdemokratie mit ihnen verbunden. «Die Grünen treten moderner, zukunftsgewandter auf als die SPD», sagte der Mainzer Politikwissenschaftler Jürgen Falter kürzlich zu dieser Zeitung.
Gleichermassen ist ihr Aufwind auch eine Reaktion auf das Erstarken der AfD. Im Gegensatz zu allen anderen haben die Grünen, die sich als liberal-offene Gegenbewegung positionieren und sich in Migrationsfragen dezidiert abgrenzen, keine Stimmen an die Rechtspartei verloren. Von einem «liberalen Bollwerk» gegen die «Revolutionäre von rechts» schrieb kürzlich die NZZ.
Anders präsentiert sich die politische Grosswetterlage in der Schweiz. Sie ist ein Hort der Stabilität. Das Gleichgewicht unter den Parteien ist beständig, vor allem aber verlieren die Sozialdemokraten nicht an Zustimmung. Für die Wahlen 2019 zeichnet sich gar ein Aufwärtstrend ab. Im europäischen Vergleich ist die SP eine der am weitesten links politisierenden sozialdemokratischen Parteien.
Das Feld ist klar abgesteckt: Zusammen mit den Grünen zielt die SP auf die gleiche Wählerschaft. Seit 20 Jahren vereinen die Parteien stets zwischen 25 und 30 Prozent der Stimmen auf sich, Politologen sprechen von einem «kontinuierlichen Stimmentransfer». Im Bundeshaus haben die beiden Fraktionen die höchste Übereinstimmung; erst recht, seit sich der bürgerliche Flügel der Grünen vor zehn Jahren abgespalten und in den Grünliberalen aufgegangen ist. Dass die grünen Parlamentarier derzeit etwas weniger links politisieren als die SP-Vertreter, fällt dabei ebenso wenig ins Gewicht wie die Differenzen beim AHV-Steuer-Deal.
Man kann es auch so formulieren: Während die deutschen Grünen vermeintliche Gegensätze zum Programm machen und hungrig auf die Mitte schielen, gibt es für ihre Pendants in der Schweiz keinen Grund zu einer Kurskorrektur.