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Es ist die Stunde der Zukunftsforscher und der Utopisten. Zeitungen, Magazine und soziale Medien sind voll von schrillen Prognosen: Der Kapitalismus sei erledigt, die Menschen würden nicht mehr fliegen, und alles werde öko. Wenn sich all diese Auguren bloss nicht irren!
«Die Welt nach der Coronakrise: Nichts wird so sein wie davor», schrieb der deutsche Futurologe Matthias Horx in einem vielbeachteten Beitrag, der auch in dieser Zeitung erschien. Er prophezeite: «Die Normalität wird nicht zurückkehren.»
Die Berufs- und Hobby-Futorologen drehen jetzt am ganz grossen Rad. Ohne Begriffe wie «Epochenbruch» und «Zeitenwende» geht es selten. Der «Spiegel» titelte auf dem Cover: «Jetzt oder nie: Der Corona-Schock birgt die Chance auf eine bessere Welt.» Autor Ulrich Fichtner, dem wegen seiner Rolle in der Fälscher-Affäre um Claas Relotius der Chefredaktorposten verwehrt blieb, argumentiert, die Coronakrise könne heilsam sein. Der Kapitalismus sei dekadent und das Internet habe eine zersetzende Kraft entfaltet, kurzum: «Es gibt viele Gründe, sich nicht in die Zeit vor der Pandemie zurückzuwünschen.»
Zurückwünschen: Dieses Verb ist entlarvend. Tatsächlich geht es in den Prognosen oft mehr um Wünsche als um Vorhersagen. Linke Autoren schreiben euphorisch das Ende des Kapitalismus herbei. In der «Zeit» brachte eine Kolumnistin folgenden Satz unter:
... dann soll endlich Schluss sein mit dieser katastrophalen Scheisse namens Kapitalismus ohne soziales Antlitz.
Anders tönt es im Wirtschaftsmagazin «Bilanz». «Die Wohlstandsschere öffnet sich weiter», wird hier orakelt, «Big Pharma ist nicht mehr böse», lautet eine jener durchaus spannenden Prognosen, die auf der Frontseite allwissend wie folgt ankündigt werden: «Die Welt nach Corona - wie die Pandemie alles verändern wird.»
Die Verheissungen, die man zurzeit überall liest, könnten widersprüchlicher nicht sein, je nach politischem Standpunkt, etwa beim Umweltschutz. Nachdem der «Tages-Anzeiger» prophezeit hatte, die Innenstädte könnten in Zukunft auch ohne Corona praktisch autofrei sein, konterte gestern Auto-Importeur Walter Frey mit einem Gastkommentar: «Das Auto hat Zukunft» - das zeige sich gerade jetzt, während der Pandemie.
Selbstverständlich wird diese Folgen haben, weit über die Krise hinaus. Schliesslich ist sie ein Jahrhundertereignis. Eine unbestreitbare Tatsache ist beispielsweise, dass die Staaten gigantische Schulden anhäufen, weil Trump, Merkel und auch unser Ueli Maurer die Wirtschaft nach dem Prinzip «Koste es, was es wolle» zu retten versuchen.
Doch aus dieser Tatsache lassen sich völlig gegensätzliche Prognosen herleiten: Der linke Augur sagt Steuererhöhungen für die Reichen voraus und generell eine Stärkung des Staates gegenüber dem Markt. Der wirtschaftsliberale Augur wiederum glaubt, das Gegenteil werde passieren: Ein Staat mit vielen Schulden sei ein schwacher Staat, der auf Jahre hinaus durch Sparprogramme im Zaum gehalten werde und sich beispielsweise keine Investitionen in Klimaschutz leisten könne.
Auch zum Verhalten der Menschen gibt es Prognosen. Eine besonders oft gelesene lautet: Wir werden weniger fliegen und überhaupt weniger ins Ausland reisen. Ja, diesen Sommer gewiss, wohl auch noch 2021, vielleicht länger. Aber langfristig: Wird Corona unser Bedürfnis, andere Länder und Kulturen kennenzulernen, wirklich abtöten? Ist ein Virus, dessen Gefährlichkeit noch immer nicht ermessen werden kann, wirklich stärker als der genetisch programmierte Drang, die Welt zu erkunden? Zweifel sind angebracht.
Jedenfalls ist nicht auszuschliessen, dass die Zeit nach Corona der Zeit vor Corona sehr ähnlich sein wird. Auch, weil viele Menschen, gerade im Westen, diese Zeit als gar nicht so katastrophal in Erinnerung haben wie die Systemveränderer.
Ein solches Szenario bietet natürlich kein Geschäftsmodell für Futurologen, und es ist ein Graus für jeden Utopisten. Unwahrscheinlich ist des deswegen aber nicht.