Gesundbeter bezeichnen die Einsamkeit als "Epidemie". Man müsse Einsame aus der "Schmuddelecke" holen. Sind die noch bei Trost? Ein Plädoyer für die Einsamkeit ist offenbar dringend nötig. Ein Punkt darin ist auch erotisch.
Hissen Gesundbeter von neuem die Kreuzzugs-Flagge? Haben sie noch ein rückständiges Land entdeckt, um loszusegeln, um darauf alle Schatten zu vertreiben? Um auch im düstersten Winkel ihren Lichtdom modernen Gesundbetens zu errichten. Dieser Dom besteht aus drei Säulen: positives Denken, Fitness, Reue – alles für die Leistung. Das neue Land, das jetzt dafür erobert/befreit werden soll vom Dunkel, heisst Einsamkeit. Ein Land für «only the lonely», wie Roy Orbison sang.
In England gab die Regierung den Auftrag, den Kampf aufzunehmen gegen die grassierende Einsamkeit. Dafür wurde eigens ein Ministeriumsposten geschaffen. Tracey Crouch soll ihn bekleiden, bisher die Staatssekretärin für Sport und Ziviles. Will Crouch Einsame jetzt fittrimmen – Jogging, Möhrensaft und Rolf Dobelli? Damit subito Zivilisierte aus ihnen werden? Schafft Crouch Zentren für ALs, anonymous Loners, anonyme Einsame: «Hallo, ich heisse Robinson Crusoe und bin Alleino-holiker.» Streut sie schon im Kindergarten Faltblätter des Inhalts: «Loner gleich Loser»?
Premierministerin Theresa May spricht von der «traurigen Realität des modernen Lebens». Die Trauerklösse ortet sie dabei, ohne einmal nachzudenken, bei den Einsamen. Mehr als neun Millionen der knapp 66 Millionen Briten, sagt das Rote Kreuz, fühlen sich immer oder häufig einsam – und das noch vor dem Brexit! Es handle sich um eine «Epidemie im Verborgenen». Also muss schleunig ausgemistet werden. Alle Einsamen zum Rapport! Ihr Dunkelinfizierten, ihr Überträger der gefährlichen Schwermutsseuche – Marsch in die Quarantäne! Auch die Letzten müssen jetzt noch Spass finden am tollen modernen Leben.
In Deutschland sagte Marcus Weinberg, ein christ-demokratischer Parteisoldat, man müsse dafür sorgen, «dass Einsamkeit nicht in einer Schmuddelecke bleibt.» Ihr unhygienischen Nesthocker, endlich kriegen wir euch am Wickel! Jetzt wird nach euch gefahndet in allen nur erdenklichen «Schmuddelecken». Die Gesellschaft darf nicht einfach zuschauen, wenn Einzelmasken Trübsal blasen, statt bei der Steigerung des Bruttosozialprodukts freudig mit zu rütteln. Der Staat kann es nicht länger dulden, dass jeder dahergelaufene Einsame glaubt, er könne in der windstillen Ecke weiter sein eigenes Süppchen kochen.
Fast wurden die Deutschen, gern führend beim Weltverbessern, kalt erwischt von den Briten. Aber sie mobilisierten ihre Lautsprecher schnell für die «Enttabuisierung» der Einsamkeit – nochmals Marcus Weinberg: «Wir müssen Programme auflegen, neue Konzepte entwickeln.» Wie gewohnt: Broschüren und Papier. Ein Büro aufmachen. Da steht die Einsamkeit nach Schalterschluss dann dumm vor der Tür und hat erst recht nichts mehr zu husten, wenn das Care-Team an Pfingsten die «Brücke» macht. Der Gesundheitsexperte der SPD, Karl Lauterbach, sagte zur tief besorgten «Bild»-Zeitung: «Es muss für das Thema Einsamkeit einen Verantwortlichen geben.» Auch das wie gewohnt: Man delegiert ein Problem an Fachleute und ist selber mal die Sorge los. «Verantwortliche» kann man zur Rechenschaft ziehen, sollte es nach hundert Tagen im Amt noch einen einzigen Einsamen geben: «Hat ihr Management versagt, Madame Soledad, oder die Kommunikation?»
Wohlgemerkt: Ich mache mich hier nicht lustig über die Einsamen. Hingegen finde ich es lächerlich, wenn sich Gesundheitspolitiker und Fürsorgebeamte eines Phänomens annehmen, dessen Vielschichtigkeit kaum auszuloten ist. Die meisten Dinge des Lebens sind geprägt von extremer Ambivalenz, von tiefem Helldunkel, die Einsamkeit ganz besonders. Einsamkeit ist keine Krankheit, nur weil sie krank macht!
Einsamkeit ist nicht die Ursache vieler Leiden in Anonymität und Stille. Der Ort vieler Leiden steckt im einzelnen Kopf oder Herz, in jeder Seele. Wie jemand in einen kühlen grauen Tag geht, ist entscheidend dafür, ob ihm der Tag am Ende aufs Gemüt schlägt. Genauso liefert das Innere die Kraft oder Schwäche, wo jemand in die Einsamkeit geht: Ist man leer oder erfüllt? Ist der Einzelne sich selbst ein guter Gesellschafter, oder haben beide – ich versus ich – sich nichts zu sagen?
Da Ministerialbüttel jetzt die Einsamkeit platterdings als Hygieneseuche behandeln und meinen, es genüge, ein bisschen von der allgemeinen Lustigkeitshysterie in die trüben Ecken zu blasen, damit auch die Solisten im Umzug Anschluss halten, ist es höchste Zeit, die hellen Seiten der Einsamkeit vor Augen zu führen. Alarmierend heute ist ja weniger die Tatsache, dass die Innenwelt des Menschen ein prekärer Grund ist und bleibt, als bei Gesellschaftshygienikern aller Couleur der fürchterliche Mangel an Einsicht in diese innere Welt. Da kann man sich nicht einmal mehr vorstellen, dass Einsamkeit auch tief heilsam sein kann. Weil sich nur da aller Lärm legt, und sich von allein die Nebel lichten.
Das wussten die Alten besser. Etwa Arthur Schopenhauer, der deutsche Philosoph: «Man hat in der Welt nicht viel mehr, als die Wahl zwischen Einsamkeit und Gemeinheit. Ganz er selbst sein darf jeder nur, solange er allein ist. Wer also nicht die Einsamkeit liebt, der liebt auch nicht die Freiheit. Denn nur wenn man allein ist, ist man frei.» Deshalb sollte es «ein Hauptstudium der Jugend sein, die Einsamkeit ertragen zu lernen; weil sie eine Quelle des Glücks, der Gemütsruhe ist.»
Diese Meinung teilte Gottfried Keller: «Einsamkeit, verbunden mit einem klaren heiteren Bewusstsein, ist die einzig wahre Schule für einen Geist von edlen Anlagen.» Das schwebte wohl auch dem Nationalheiligen der Eidgenossenschaft vor, Niklaus von Flüe. Und vor 2000 Jahren schrieb Seneca, der weise Römer: «Massengeselligkeit ist durch die Wucht der Einstimmigkeit für uns eine Schule der Fehler. Mögen wir sonst nichts für unser Seelenheil tun, die Abgeschiedenheit ist doch an und für sich schon von Nutzen: Wir werden uns bessern, wenn wir vereinzelt sind.» Braucht die Einsamkeit noch mehr Plädoyers? Vielleicht ein erotisches: «Non, je ne suis jamais seul avec ma solitude» – «Nein, mit meiner Einsamkeit bin ich nie allein» (Georges Moustaki).
Für die Einsamkeit finden sich Tausende von Stimmen. Ihr Chor sammelt sich im deutschen Sprichwort: «Einsamkeit ist die Zufluchtsstätte der Geistreichen und die Folterkammer der Geistesarmen.» Wenn das stimmt, dann liegt das Gebot der Stunde auf der Hand für politisch Umtriebige: Man muss alles tun, um die wesentlichen Dinge – und nur diese – in den Kopf, in die Seele jedes Einzelnen zu legen. Man muss den Zeitgenossen wieder bereichern, nicht bloss zerstreuen. Dann fällt ihm, ist er mal allein, auch nicht gleich «die Decke auf den Kopf».
Sehen wir uns um in der Gegenwart, achten wir mal darauf, was uns täglich aufs Auge gedrückt, in die Ohren gepresst, was alles entwertet und albern neu zusammengelogen wird, als wären alle infantil, dann kann man eines mit Gewissheit sagen: Diese Zeit rüstet uns nicht wirklich aus für die Einsamkeit. Im Gegenteil, sie hält den Einzelnen mit leerem Getriebe auf Trab und höhlt ihn weiter aus. «Burnout» ist der Einbruch der dünnen Decke von Leistungshetze über zu viel Hohlraum. «Burnout»-Kliniken bieten zur Therapie im Grunde nur die Ruhe im Schneckenhaus – jahrhundertelang bewährt in Klöstern. Mitten in der Wüste nun auch ein staatliches Büro zu eröffnen, um die Ausgetrockneten als Kranke noch zu demütigen, aber ist grotesk.
Es gibt die schlimme Seite der Einsamkeit, den schieren Katzenjammer. Erinnert sei an das Wort des französischen Lebensphilosophen Michel de Montaigne: «Zum Verirren gibt es in der Einsamkeit ebenso gut Wege wie in der Gesellschaft.» Es gab Leuchtturmwärter auf dem Felssporn, die das Feuer im Dunkel zuverlässig hüteten, und es gab Männer, die dort draussen sofort durchdrehten. Bei «Verirrungen» zu helfen, gehört in die Zuständigkeit von uns allen, nicht in die Zuständigkeit eines Amtes. Man kann die Sorge um gemobbte Kinder, um alleinstehende Eltern, man kann Nachbarschaft, ein Grundmass an Menschlichkeit nicht delegieren. Umgekehrt aber kann niemand einem anderen Menschen die Aufgabe aufbürden, ihn für die Einsamkeit zu stärken.