Leitartikel von Doris Kleck, Ressortchefin Bundeshausredaktion von CH Media, zur Abstimmung über die Steuer-AHV-Vorlage vom 19. Mai.
Wenn man es nicht wüsste, würde man es nicht merken: Am 19. Mai kommen mit der Firmenbesteuerung und der AHV zwei der drängendsten Probleme an die Urne. Und trotzdem verläuft der Abstimmungskampf erstaunlich emotionslos. Kein Vergleich zur Unternehmenssteuerreform III oder zur Rentenreform 2020, wo sich Gegner und Befürworter mit viel Verve stritten – vor allem auch um Details. Dieses Mal ist alles anders, es geht um die grosse Frage: Ist die Schweiz noch reformfähig? Und wie bei Kompromissen üblich, ist die Begeisterung nur lauwarm. Dabei gibt es gute Gründe, um ein Ja in die Urne zu legen.
So ist es höchste Zeit, dass die Schweiz ein gerechtes System der Unternehmensbesteuerung bekommt. Ein System, in dem KMU steuerlich gleichbehandelt werden wie Grosskonzerne. Aktuell ist dies nicht der Fall; die Gewinnsteuersätze in den Kantonen sagen wenig über die effektive Steuerbelastung aus, weil international ausgerichtete Firmen von Privilegien profitieren.
Dieses System war für die Schweiz lange Zeit sehr einträglich, nun wird es aber zum Risiko. Die Schweiz hat der EU und der OECD versprochen, die verpönten Privilegien abzuschaffen. Ansonsten drohen schwarze Listen. Die Konzerne brauchen aber Rechtssicherheit, sonst leidet der Wirtschaftsstandort Schweiz.
So transparent war ein politisches Tauschgeschäft noch selten.
Die Reform ist nicht gratis zu haben. Würde man einfach die kritisierten Privilegien abschaffen, müssten die Konzerne massiv mehr Steuern bezahlen. Weil sie mobil sind, droht die Abwanderung. Deshalb sollen neue Instrumente eingeführt und die Gewinnsteuersätze in den Kantonen gesenkt werden. Während für die Konzerne die Steuerbelastung eher steigt, sinkt sie für alle anderen Firmen.
Die Reform kostet Bund, Kantone und Gemeinden etwa zwei Milliarden Franken. Ist das viel oder wenig? Zum Vergleich: Die Steuereinnahmen aller drei Staatsebenen beliefen sich 2017 auf 145 Milliarden Franken. 24 von 26 Kantonen haben ihre Rechnung für 2018 publiziert. Sie fielen aufgerechnet um 2,3 Milliarden Franken besser aus als budgetiert. Der Bund erzielte einen Überschuss von 2,9 Milliarden Franken. Die Schweiz kann sich den Umbau des Steuersystems leisten.
Die Reform wird zu Steuerausfällen führen, das stimmt. Abgesehen davon, dass der Preis für das Nichtstun höher wäre, muss dabei beachtet werden: Mit der nationalen Vorlage vom 19. Mai wird keine einzige Steuer gesenkt. Entscheidend ist, wie die Kantone die Reform umsetzen. Im Gegensatz zur abgelehnten USR III werden die Kantone gesetzlich verpflichtet, den Gemeinden die Auswirkungen der Steuersenkungen angemessen abzugelten. Das ist ein wichtiger Grund, weshalb sich die vehementesten USR-III-Gegner aus Gemeinden und Städten nun hinter die Vorlage stellen.
Zudem haben die Stimmbürger in den Kantonen ein Vetorecht: Präsentieren ihre Regierungen und Parlamente keine ausgewogenen Vorlagen, können sie immer noch vom Volk zurückgepfiffen werden. Die krachende Niederlage bei der USR III steckt vielen Kantonsregierungen noch in den Knochen. Sie gehen behutsamer vor. Aargau und Bern etwa verzichten auf die Senkung der Gewinnsteuern.
Den Kritikern des Kuhhandels sei gesagt: Verteilungstechnisch gibt es einen Zusammenhang zwischen Firmensteuern und AHV.
Firmen werden mit der Reform auch stärker belastet. Die Wirtschaft übernimmt einen Teil der Kosten des sozialen Ausgleichs. Zwei Milliarden Franken sollen zusätzlich in die AHV fliessen. Dafür werden die Sozialbeiträge von Angestellten und Firmen um je 0,15 Lohnprozentpunkte erhöht. Fr. 1.50 auf 1000 Franken. Firmen mit vielen Angestellten und hohen Löhnen schultern die grössere Last — sie profitieren tendenziell von der Steuervorlage. Den Kritikern des Kuhhandels sei deshalb gesagt: Verteilungstechnisch gibt es einen Zusammenhang zwischen Firmensteuern und AHV. 90 Prozent der Rentner profitieren von der Umverteilung innerhalb der AHV. Unbestritten ist, dass das Sozialwerk mehr Geld braucht.
Seit 2014 zahlt der AHV-Fonds mehr Renten aus, als er an Beiträgen einnimmt. 2018 betrug der Verlust 2,2 Milliarden Franken. Mit dem AHV-Steuer-Deal werden die strukturellen Probleme des Sozialwerkes nicht gelöst, es braucht eine weitere Reform. Doch mit strukturellen Massnahmen allein lässt sich das Finanzierungsproblem der AHV ohnehin nicht lösen.
Die Vorlage löst nicht alle Probleme – eigentlich ist sie nur eine Etappe: Die Kantone erhalten die Grundlage, um ihre Steuerreformen umzusetzen. Die Politiker gewinnen Zeit, um die nötige AHV-Reform ohne Druck anzugehen. Der AHV-Steuer-Deal ist ein Kompromiss. Jawohl. Aber einer ohne Hinterzimmergeschacher. So transparent war ein politisches Tauschgeschäft noch selten.