IN DER GLÄSERNEN WELT

Was ist die wichtigsteVeränderung in unserer Gesellschaft der letzten 40 Jahre? Der Fall der Berliner Mauer und der Kollaps des Kommunismus? Der Siegeszug des Internets? Der Aufstieg Chinas? Der Klimawandel?

SaW Redaktion
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Ich stellte diese Fragevor einiger Zeit Klaus Schwab, der seit 40 Jahren das WEF veranstaltet und mit den Mächtigen der Welt über die grossen Themen diskutiert. Seine Antwort war unerwartet: Die wichtigste Veränderung sei das Verständnis von Privatheit, das in der jungen Generation fundamental anders sei als in früheren Generationen. Der Unterschied zwischen privat und öffentlich falle. Das verändere das Zusammenleben der Menschen und die Geschäftsmodelle der Unternehmen.
Tatsächlich gehen die Jungen unbekümmert mit Privatem um. Sie stellen Fotos ihrer Ferien und Partys auf Facebook, sie reden über Geldprobleme und ihr Liebesleben, es ist ihnen egal, wenn sie Firmen mit der Cumuluskarte Einblick in ihr Konsumverhalten geben. In den 80er-Jahren sorgten Fichen des Staatsschutzes für einen Skandal – heute geben Bürger im Netz mehr von sich preis, als Heerscharen von Schnüfflern je herausfinden könnten.
Das Aufkommen von Wikileaks, diesem Zwangs-Facebook über Politiker und Diplomaten, ist der nächste Schritt hin zur gläsernen Welt. Nicht einmal Regierungschefs und Botschafter können darauf vertrauen, dass ihre Gespräche privat bleiben.
Ist das schlimm?
Die Aufregung wird sich legen, je mehr Material zum Vorschein kommt. Denn das Gesetz der Inflation gilt auch auf dem Markt fürAufmerksamkeit: Wo etwas im Übermass vorhanden ist, sinkt der Wert, schwindet das Interesse. Sitzungen des Solothurner Regierungsrats sind öffentlich – doch kaum ein Bürger, kaum ein Journalist interessiert sich dafür. Die ersten paar hundert der 251000 Wikileaks-Dossiers waren noch «breaking news», was darauf täglich noch publiziert wurde, bloss Kurzmeldungen.
Transparenzist die Forderung der Stunde. Zu Recht. Doch ironischerweise führt der Triumph der Transparenz, sei sie freiwillig oder erzwungen, in letzter Konsequenz dazu, dass sich am Ende keiner mehr für das interessiert, was sie zum Vorschein bringt.