Thea Mauchle (SP) sass nicht nur im Kantonsrat, sie sitzt auch im Rollstuhl. Um ins Rathaus zu kommen, musste Polizisten sie jeweils einige Stufen hochtragen. In der Behindertengleichstellung stellt sie einen Rückschritt in der Gesellschaft fest.
Frau Mauchle, Sie wollten mich unbedingt im Bistro Lochergut treffen. Warum das?
Thea Mauchle: Weil es das einzige Lokal weit und breit ist, das rollstuhlgängig ist. Und es hätte sogar ein Behinderten-WC.
Weit und breit?
Ja. All die hübschen Cafés und Bars im Quartier haben Treppenstufen oder das WC im Keller.
Sie waren acht Jahre im Kantonsrat. Das Rathaus ist auch nicht gerade rollstuhlfreundlich.
Das konnte ich nicht von heute auf morgen ändern. Nachdem Marc F. Suter als erster Rollstuhlfahrer in den Nationalrat gewählt worden war, weigerte er sich, an den ersten beiden Sessionen teilzunehmen, solange das Gebäude nicht rollstuhlgängig war.
Wie haben Sie das Problem gelöst?
Vor mir war ja schon Joe Manser im Gemeinderat, der auch im Rollstuhl ist. Er hat sich anscheinend jahrelang bis in den Ratssaal hinaufziehen lassen. Irgendwann kam ein Treppenlift in den ersten Stock. Aber die paar Stufen von draussen mussten mich jeweils Polizisten hochtragen. Die Leute waren hilfsbereit, aber es war trotzdem mühsam.
In Ihrem Rücktrittsschreiben steht, Sie hätten seit dem Unfall, der die Ursache für Ihre Behinderung ist, vor allem Geduld lernen müssen.
Ich lag die ersten zehn Wochen auf dem Rücken und konnte mich nicht bewegen. Das ist eine irre Vorstellung, zehn Wochen lang liegen. Da lernt man geduldig sein.
Sie haben das aber auch auf Ihr politisches Thema, die Behindertengleichstellung, bezogen.
Klar. Die Leute müssen erst begreifen, was unser Problem ist. Sie bieten zwar ihre Hilfe an, mit der Idee, dass einen ein paar starke Männer irgendwohin tragen. Das ist aber kein idealer Zustand. Es dauert ewig, den Menschen klarzumachen, dass wir gleiche Bedingungen möchten wie sie.
In den letzten rund zwanzig Jahren ist doch punkto Gleichstellung viel in Bewegung gekommen.
Das stimmt. Es begann in den Neunzigern, ab 2004 galt dann das Behindertengleichstellungsgesetz. Wenn man etwas vorwärtsbringen will, dann via Recht. Das geht viel schneller als ein Appell an den gesunden Menschenverstand.
Manchmal wurden Sie kritisiert, Sie würden sich als Politikerin nur für Behinderte interessieren.
Ich stand immer dazu. Ich konnte und wollte mich gar nicht für andere Dinge engagieren. Vielleicht, wenn ich meinen Beruf aufgegeben hätte. Aber ja, ich war in keiner Kommission. Die Hürden waren in meiner Situation einfach zu hoch.
Die Politik scheint das Tempo in Sachen Behindertengleichstellung im Moment eher zu drosseln.
Ich würde sogar von einem Rückschritt reden, vergleichbar mit der Emanzipation der Frauen. Vieles ist umgesetzt, der Druck ist gesunken.
Nach dem Motto: «Wir haben viel getan, die Behinderten sollen gefälligst mal zufrieden sein»?
Ja, das höre ich manchmal. Ich habe mich zum Beispiel bei der Umgestaltung des Idaplatzes für hindernisfreie Randsteine eingesetzt. Die Stadt gab mir dann zu verstehen: Gut, einen Schritt kommen wir dir entgegen, wenn du mehr willst, musst du vor Gericht gehen.
In welchem Bereich ist die Schweiz denn am fortschrittlichsten?
Beim öffentlichen Verkehr. Wobei auch hier nicht alles perfekt ist. Bei den Doppelstockwagen geht man davon aus, dass wir unten kein Bedürfnis nach einem Speisewagen haben, der ist oben. Oder WCs: Wie viele Behinderten-WCs soll es in einem Zug geben? Es herrschte offenbar die Meinung, wir könnten ja jeweils an den Bahnhöfen die Toiletten benützen.
Wer im Speisewagen nichts trinken kann, braucht danach auch kein WC.
(lacht) Wir fanden das jedenfalls diskriminierend. Wieso dürfen wir nicht mit den anderen essen? Doch manchmal heisst es: «Müssen wir euch eigentlich den roten Teppich auslegen?»
Man fand das übertrieben?
Ja. Die meinten: Jetzt ist mal fertig! Anderes Beispiel: Anstelle von Randsteinen gibts heute fliessende Übergänge zwischen Trottoirs und Strassen. Das ist für mich angenehm, doch für Blinde ist das eine Katastrophe. Jetzt haben wir einen Kompromiss gefunden, drei Millimeter Rand. Aber dagegen laufen die Velofahrer Sturm.
Müsste man alle Architekten und Planer während des Studiums zwingen, mal eine Woche im Rollstuhl zu verbringen?
Das gibt es bereits. Unsere Bauberater gehen jedes Jahr an die ETH. Dort treffen sie auf zwei Sorten von Studenten. Die einen machen begeistert mit und spüren die Probleme, die sich uns im Alltag stellen. Die anderen lehnen den Gedanken völlig ab. Sie wollen sich gar nicht damit beschäftigen.
Warum das?
Das ist eine psychologische Ablehnung. Man will sich nicht damit befassen, weil man ja vielleicht selber einmal im Rollstuhl sitzen könnte. Das verdrängen viele per se. Insgeheim sind sie froh, wenn vor einem edlen Lokal ein paar Treppenstufen stehen.
Wie meinen Sie das?
Man will das Hässliche nicht sehen. Wenn man in lustiger Stimmung ist, will man nicht mit dem Leben konfrontiert werden. Rollstühle verderben die Partylaune.
Starke Worte.
Aber es ist so. Wenn Sie jemanden im Rollstuhl sehen, werden Sie daran erinnert, dass das Ihnen selber mal passieren kann.
Sie werden auch ohne Kantonsratsmandat weiterhin Politik machen.
Ja, ich bin seit 2006 Präsidentin der Behindertenkonferenz des Kantons Zürich. Übrigens die erste Präsidentin, die selber eine Behinderung hat. Ich kann unsere Interessen besser vertreten als jemand, der sich bloss für Behinderte einsetzt. Mein Auftritt macht mehr Eindruck.