Werden die Medien immer schlechter? Als Journalismusforscher beobachtet Vinzenz Wyss die Entwicklung sehr genau und erklärt, ob der Journalismus wirklich dem Untergang geweiht ist.
Herr Wyss, was hat Sie als Journalismusforscher zuletzt beschäftigt?
Vinzenz Wyss: Der Journalismus ist unheimlich unter Druck: Sorge bereiten sinkende Auflagezahlen und damit schwindende Werbeeinnahmen. Lösungen sind kaum in Sicht. Ich habe die Berichterstattung um Geri Müller und «Carlos» unter diesem Aspekt genauer verfolgt. Diese Fälle zeigen symptomatisch, dass die Redaktionen unter dem Druck wie irre überreagieren.
Wie meinen Sie das?
Es dominiert die Aufmerksamkeitsbewirtschaftung. Personalisieren, Moralisieren und Empören sind die Folge. Gesellschaftlich relevante Fragen werden verdrängt. Für das Ausrecherchieren von strukturellen Aspekten bleibt weniger Zeit.
Findet eine Boulevardisierung der Medien statt?
Das ist so, aber auch der Boulevard, wie ihn der «Blick» pflegt, hat seine Stärken. Etwa Themen nicht aus der Sicht einer Elite zu beschreiben, sondern aus der Sicht von Betroffenen. Und er kann relevante Fragen stellen, die in anderen Medien tabu sind. Ein gesunder Boulevard kann also durchaus wichtig sein, wenn er gesellschaftlich relevante Fragen aufgreift. Wird aber Aufmerksamkeitsbewirtschaftung bei immer mehr Medien zum Selbstzweck, das Publikum immer wieder aufs Neue bloss erregt, dann haben wir ein Problem.
Warum ist das Grund zur Sorge?
Ich sorge mich nicht um die Medien, aber um den Journalismus. Ein Bürger braucht für seine Meinungsbildung einen Journalismus, der die Gesellschaft für ihn kontinuierlich beobachtet und die relevanten Fragen stellt. Infolge Kostendrucks sind ausgedünnte Redaktionen aber dazu weniger in der Lage. Das muss uns Sorgen machen, wenn uns eine funktionierende und sich entwickelnde Demokratie wichtig ist.
Der Zürcher Soziologe Kurt Imhof zeichnet in seinem Jahrbuch «Qualität der Medien» ein ähnlich düsteres Bild. Das kommt nicht überall gut an und sorgt für teils herfitge Kritik.
Die Branche ist in einem Dauerstress, und sie bekam – fälschlicherweise – oft zu hören, der Journalismus sei vom Tod gezeichnet. Wie bei einem Mann im Sterbebett kann dieses Todesurteil bei einem Journalisten Wut auslösen, er bäumt sich auf und versucht trotzig, das Gegenteil zu beweisen. Dass Warnungen wie jene von Kurt Imhof sauer aufstossen, ist nachvollziehbar. Aber wer sonst, wenn nicht die Wissenschaft, kann mit Distanz relativ objektiv und neutral solche Analysen in die Öffentlichkeit bringen? Wir sollten sie zur Kenntnis nehmen und auch darüber streiten.
Sehen Sie trotz aller Warnungen auch Innovationen?
Gerade im Onlinejournalismus entwickeln sich neue Formate. Der Datenjournalismus zum Beispiel, der mit grossen Datenmengen arbeitet. Oder das Beispiel «Watson»: Auch Wissenschaftler belächeln unsicher neue schräge Formate wie Listicles. Dabei könnte dieses Format der Auflistung auch bei relevanten Themen angewendet werden. Das wird den Journalismus nicht retten, aber wegschauen wäre falsch.
Trotzdem drängt sich immer die Frage auf, wie das alles künftig finanziert werden soll.
Auch wenn das strukturelle Problem der Finanzierung damit nicht auf Anhieb gelöst wäre, müsste die Frage jetzt doch lauten, wie redaktionelle Innovationen unterstützt werden können. Fehlt das Geld in einem Medienhaus für eigene Experimente, spräche nichts gegen eine gemeinsam finanzierte, staatsferne Stiftung, die innovative Projekte direkt unterstützt. Solche Modelle kennt man etwa aus Schweden. Oder in der Wissenschaft beim Nationalfonds. Die hiesige Medienbranche aber verwirft reflexartig die Hände und tut dies sofort als staatlichen Eingriff ab. Solche Ideologiekämpfe kann sich die Branche langfristig nicht leisten.
Einige Medien suchen einen Ausweg mit Native Advertising, bei dem Werbung als redaktioneller Inhalt getarnt wird.
Das ist ein Auswuchs der Krise, der uns wieder zu «Watson» führt. Beim Native Advertising wird Werbung oder Sponsoring etwas scheinheilig deklariert, und dem Leser ist oft nicht klar, ob er es mit interessengesteuertem oder mit redaktionellem Inhalt zu tun hat. Damit werden Berufsregeln bewusst verletzt. Das ist gefährlich. Wir sind auf einen autonomen Journalismus angewiesen, der nicht von einer kommerziellen Logik getrieben ist.
Wird die Medienkompetenz der Bevölkerung also wichtiger?
Unbedingt. Ein Jugendlicher kann heute gut zwischen zwei Marken-T-Shirts unterscheiden. Im Medienbereich fehlt diese Kompetenz, auch was den Umgang mit Social Media angeht. Trotz der Allgegenwärtigkeit des Internets braucht es ein Bewusstsein dafür, dass eine Profession unverzichtbar ist, die für die Bürger die Glaubwürdigkeit von Quellen prüft, die sich auf Verhaltensregeln beruft.
Wie verhalten sich dabei die Journalisten in Ihren Augen?
Ich bin enttäuscht, wie wenig die Journalisten auf die aktuelle Situation reagieren. Sie müssten sich doch mit der Kritik auseinandersetzen und ihre Profession stärken. Doch die Journalisten sind sehr zurückhaltend – wohl auch, weil sie das Gefühl haben, nicht über sich selbst schreiben zu können. Das hat leider zur Folge, dass die Stimme der Profession in der Öffentlichkeit kaum zu hören ist. Auch der kritische Medienjournalismus ist dünn gesät. Stattdessen wird die Haltung der Verleger übernommen. Diese sind jedoch nicht an Veränderung interessiert, solange sie ihr Geld verdienen.
Die Medienforschung beschäftigt sich gerne mit den nationalen Titeln. Werden die regionalen Zeitungen zu stark vernachlässigt?
Lokaljournalismus wird sowohl in der Wissenschaft als auch in der Branche unterschätzt. Für einen Journalisten ist es viel leichter, Barack Obama zu kritisieren als einen Lokalpolitiker, dem man wieder begegnet. Hinzu kommt, dass sich ein Grossteil im Leben des Publikums nun einmal im Lokalen abspielt, auch wenn das einige anders sehen. In den Redaktionen heisst es bis heute: Du fängst im Lokalen an, und wenn du dich bewährst, kommst du ins Inlandressort. Das halte ich für völlig verkehrt. Die kompetenten Leute braucht es im Lokalen.