Startseite
Region (LiZ)
In einer Studie hat das Zürcher Gottlieb-Duttweiler-Institut unsere Bereitschaft zur Offenheit untersucht. Dafür hat das Trend- und Zukunftsforschungsinstitut 2000 Personen befragt. Die Erkenntnis: Unsere Offenheit für Neues bleibt nicht das ganze Leben lang gleich gross.
Mit 33 ist man alt. Das jedenfalls findet Spotify. Der Musikstreamingdienst hat die Datensätze seiner Nutzerinnen und Nutzer untersucht und festgestellt, dass diese im Durchschnitt ab 33 keine neue Musik mehr hören. Wird man Vater oder Mutter, altert der Musikgeschmack noch schneller – nach Berechnungen von Spotify um vier Jahre.
Unsere Offenheit für Neues bleibe nicht das ganze Leben lang gleich gross, schreiben Stefan Breit und Jakub Samochowiec in einer neuen Studie des Zürcher Gottlieb-Duttweiler-Instituts (GDI). Gemäss den beiden Forschern kann das Älterwerden aus entwicklungspsychologischer Sicht als Übergang von Wachstum zu Bewahrung definiert werden: Wenn wir jung sind, wollen wir lernen, ausprobieren, explorieren; im Alter wollen wir nichts verlernen, eher bewahren und beschützen. Als Trend- und Zukunftsforschungsinstitut hat das GDI in der Schweiz und in Deutschland 2000 Personen im Alter zwischen 16 und 75 Jahren zur Offenheit befragt.
Die Studie zeigt, dass Offenheit stark themenabhängig ist. So beschränkt sich etwa die Nutzung von Uber, Tinder und Airbnb auf Altersgruppen unter 30 Jahren, bei Carsharing-Diensten ist sie dagegen bis ins hohe Alter ein Thema. Was das Essen von Insekten angeht, hört bei den Befragten die Bereitschaft ab 45 Jahren auf. Das Bedürfnis, sexuell zu experimentieren, haben jedoch auch noch die 45- bis 50-Jährigen.
Offenheit für Neues ist ein komplexes Konstrukt, das von vielen Faktoren beeinflusst wird. Der Fokus der Studie lag auf dem Zusammenhang mit dem Alter. Forscher Stefan Breit hat aber auch den Zusammenhang mit dem Wohnort analysiert. Überraschenderweise ist gemäss den Umfrageresultaten die Offenheit nicht davon abhängig, ob jemand in der Stadt oder auf dem Land wohnt.
Genauer befragt wurde zu den Bereichen Wohnen, Soziales und Essen. Dabei erstaunt auf den ersten Blick, dass sich Menschen mit zunehmendem Alter – insbesondere die 70- bis 80-Jährigen – eher vorstellen können, mit Fremden zusammenzuwohnen. Das mag laut Stefan Breit damit zusammenhängen, dass Menschen in diesem Lebensabschnitt zunehmend bewusst wird, dass sich ihre Wohnsituation bald verändern dürfte, und sie sich mental bereits auf das Altersheim oder eine vergleichbare Wohnform eingestellt haben. Ein weiterer Grund könnte die Einsamkeit sein. Andere Studien haben ergeben, dass sich ein Drittel der Schweizer Bevölkerung ab 65 manchmal bis sehr häufig einsam fühlt.
Und wie sieht es mit Lebenszielen aus? Beinahe zwei Drittel der Befragten haben eines. Wobei wenig überraschend die 20- bis 30-Jährigen häufiger von einem solchen berichten (80 Prozent) als etwa die 70-Jährigen (knapp unter 50 Prozent). Am häufigsten genannt wurden – und zwar in dieser Reihenfolge: Gesundheit, Geld, Glück, Karriere, Familie, Reisen, Beziehungsglück, Haus, Kinder, Ausbildung und Langlebigkeit. Es gibt Ziele, die mit dem Alter wichtiger werden, andere, die unwichtiger werden, und solche, die gleich wichtig bleiben. Interessant ist, dass Auswandern auch für viele 60-Jährige noch ein Lebensziel ist.
Als Gesellschaft werden wir in Zukunft nicht experimentierfreudiger: Das ist eine weitere Erkenntnis der Studie. Grund ist in erster Linie die demografische Entwicklung. Denn die gesellschaftlichen Werte verändern sich in einer immer älter werdenden Gesellschaft langsamer. Wäre die Schweiz eine Person, wäre sie 42,5 Jahre alt. Vor 50 Jahren war sie 32. Laut Prognosen wird sie bis im Jahr 2050 auf 47,5 Jahre altern. Die Hälfte der Stimmberechtigten wird in 20 Jahren über 60 Jahre alt sein. Die Schweiz mag dadurch stabiler werden, aber auch träger.
Gehemmt wird Offenheit auch durch den Überfluss. «Die Leute haben gerne eine Auswahl», sagt Stefan Breit. «Doch ab einem gewissen Grad überfordert die Fülle, lenkt ab.» Dann, wenn wir uns ständig für das richtige Neue entscheiden müssen und gleichzeitig Angst haben, etwas zu verpassen – die Fear of Missing Out (Fomo). «In diesem Überfluss wird das Neue plötzlich weniger attraktiv», sagt Breit. Man sehnt sich nach der Vergangenheit und geniesst es, beim Alten zu bleiben und nicht jeden Trend mitzumachen – die Joy of Missing Out (Jomo).
Angesichts der Fülle werden Gegenbewegungen wie Minimalismus und Achtsamkeit attraktiv. «Das konnte man vor allem zu Beginn der Coronakrise gut beobachten», sagt Breit. «Die Leute fragten sich: Was brauche ich wirklich, worauf kann ich verzichten?»
Damit das Neue als Chance und nicht als Bedrohung angeschaut wird, darf es nur in kleinen Schritten kommen. Zudem brauchen die Menschen eine Möglichkeit, das Neue mitzugestalten, sonst steigt die Gefahr, dass sie Angst davor haben.
Auf der GDI-Website ist die komplette Studie «Nie zu alt? Älterwerden zwischen Offenheit und Bewahrung» erhältlich.