Zürich
Der Schweizer Modellbogen feiert sein 100-jähriges Bestehen — doch was bringt wohl die Zukunft?

Mehrere Generationen sind mit ihnen vertraut: Millionen von Schülerinnen und Schülern haben schon einen oder mehrere der Schweizer Modellbogen zusammengesetzt, die es seit 100 Jahren gibt – das Schloss Chillon oder die Weihnachtskrippe etwa.

Michel Wenzler
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Verlagsleiter Rolf Müller ist stolz auf die Vielfalt der Modelle. Acht davon hat er selbst entworfen.

Verlagsleiter Rolf Müller ist stolz auf die Vielfalt der Modelle. Acht davon hat er selbst entworfen.

Patrick Gutenberg

«Grosseltern, Eltern und Kinder sind zum Teil mit denselben Modellen vertraut», sagt Verlagsleiter Rolf Müller Anfang Woche an der Medienkonferenz zum Jubiläum des weltweit einmaligen Angebots. «Die Bogen sind Kulturgut, ein Stück Schweizer Geschichte.»

Hauptabnehmer sind knapp 1300 Schulen in der Schweiz, welche die Bogen jeweils zum Einheitspreis von drei Franken an die Schüler abgeben. Im Handel sind die Bogen praktisch nicht präsent. Trotzdem funktionierte diese Art der Distribution jahrzehntelang gut. Jedes Jahr erhielten die Lehrer neue Bestelllisten, die Kinder wählten einen oder mehrere Bogen aus und setzten diese zumeist zu Hause zusammen.

Was kaum ein Schüler oder Lehrer gewusst haben dürfte: Jener, der das Sortiment am stärksten prägte, war der Heinrich Pfenninger (1899–1968) aus Stäfa. Als Sohn eines Malermeisters aufgewachsen, unterrichtete er lange als Lehrer in Zürich. Daneben entwarf er 80 Bastelbogen, so viele wie kein anderer. «Er war ein richtiger Workaholic», erzählt Rolf Müller. «Er war ständig am Arbeiten – seine Frau hatte wohl nicht viel von ihm.»

Pfenninger arbeitete äusserst akribisch. Seine Zeichnung des Schlosses von Sargans, so ist überliefert, soll der St. Galler Denkmalpflege als Vorlage zur Restauration des Kantonswappens an der verwitterten Schlossmauer gedient haben. Der Lehrer schuf auch die Weihnachtskrippe, zwei Adventskalender, das Schloss Kyburg, das «Dörfli» und vieles mehr.

Der Stäfner hatte die Aufgabe 1940 vom Zürcher Edwin Morf übernommen, der 1919 mit dem Zeichnen von Modellbogen begonnen und einen Verlag gegründet hatte. Auf die Idee dazu gekommen war der 1887 geborene Morf, als er wegen der Spanischen Grippe ans Bett gebunden war. Als erste Modelle entwarf er ein Davoser Bauernhaus, den Zürcher Hardturm, das Rennwegtor und einige weitere Sehenswürdigkeiten der Stadt. Bis zu seinem überraschenden Tod 1937 schuf er 33 Bogen. Dem an Volkskunde interessierten Lehrer ging es darum, ein pädagogisch hochwertiges und günstiges Lehrmittel zu schaffen. Er wollte bei jungen Menschen Tugenden wie Ausdauer, Genauigkeit und handwerkliches Geschick fördern.
Die Idee hinter den Bastelbogen ist bis heute die gleiche geblieben. «Es ist wichtig, dass die Schüler auch mit den Händen arbeiten», sagt Rolf Müller. Der 77-Jährige amtet seit 50 Jahren als Verlagsleiter. Er war noch Student, als er diese Funktion von seinem verstorbenen Vater übernahm.

Formel-1-Rennauto statt Schweizer Bauwerke

Während des letzten halben Jahrhunderts hat er miterlebt, wie sich Angebot und Nachfrage wandelten. Die einst so beliebten Bauernhäuser und Schlösser würden nur noch auf geringes Interesse stossen, sagt er. «Gerade vielen ausländischen Kindern fehlt der Bezug zu den Bauwerken der Schweiz.» Mehr Anklang finden moderne Fahrzeuge. So ist das Formel-1-Rennauto in den letzten zehn Jahren zu einem der beliebtesten Artikel geworden. Auch die Lernpuzzles und der frei stehende Weihnachtsbaum sind beliebt. Geschaffen hat sie Rolf Müller, der selbst acht Bogen entworfen hat.

Trotz allem: Der Absatz ist seit zwanzig Jahren rückläufig. 1998 verzeichnete der Pädagogische Verlag der Lehrerinnen und Lehrer Zürich mit über 650 000 verkauften Bogen den Rekordwert. 2018 waren es noch knapp 330 000. Die Konkurrenz durch die elektronische Unterhaltungsindustrie sei zu gross geworden, resümiert Müller.

Beobachtet haben die Lehrer und der Verlag zudem, dass die Fertigkeit der Jungen im Umgang mit Schere, Messer und Leim nachgelassen hat und die Kinder nicht mehr motiviert sind, sich stundenlang einem Modell zu widmen. Der Verlag hat deshalb reagiert: Die Bogen sind einfacher geworden und vorgestanzt.

Ein weiteres Problem stellen die Lehrer da. Früher hatte der Verlag in vielen Schulhäusern jahrzehntelang Kontaktpersonen, welche für die Bestellungen zuständig waren. Heute gebe es häufig Wechsel, und oft finde sich niemand mehr, der die ehrenamtliche Aufgabe übernehmen wolle.

Die Situation ist alarmierend. «Die Frage, wie lange der Verlag noch existieren kann, steht im Raum», heisst es in der Festschrift zum 100-Jahr-Jubiläum. Martin Bertschinger, der Präsident der Stiftung, die den Verlag trägt, sagt: «Wir wissen noch nicht genau, wohin es gehen wird.» Mögliche Massnahmen werden dieses und nächstes Jahr geprüft. Helfen würde es bereits, die Kosten zu senken. Aber dazu bräuchte es mitunter unpopuläre Massnahmen – etwa die Produktion der Bogen im Ausland.