Schlieremer Jahrheft 2017
Chirurg mit erstem Steinhaus: Wie aus einem Bauerndorf ein Wirtschaftszentrum wurde

Die Kommission für Ortsgeschichte macht das Werk der verstorbenen Historikerin Ursula Fortuna über das Bauen in Schlieren nun bekannt. Das Jahrheft befasst sich mit dem Wandel der Gemeinde vom Bauerndorf zum Wirtschaftszentrum.

Alex Rudolf
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Jahrheft Schlieren
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 Die Grabenstrasse in Schlieren hat sich in den letzten hundert Jahren kaum verändert. (Aufnahme 2017)
 Sie sah schon 1912 fast genauso aus wie heute.
 Schlieren bestand lange vorwiegend aus Holzbauten. Nur die Kirche war aus Stein.

Jahrheft Schlieren

zvg/Jahrheft Schlieren

Genau 45 Bauernhäuser mit Wohnteil, Scheune und Stall unter demselben Dach zählte Schlieren vor rund 200 Jahren. Dies geht aus dem Lagerbuch der Brandassekuranz des Kantons von 1812 hervor. Diese 45 Bauten lagen zwischen Büelhof an der Uitikonerstrasse, wo heute die Feuerwehr beheimatet ist, und der Badenerstrasse.

Wie die Stadt vom beschaulichen Bauerndorf zu dem wurde, was sie heute ist, damit setzt sich das aktuelle Jahrheft auseinander. Am kommenden Montag stellt die Kommission für Ortsgeschichte den Band «Bauen in Schlieren – vom Bauerndorf zum Wirtschaftszentrum» in der Stadtbibliothek vor.

Publikation basiert auf Arbeit von Ursula Fortuna

Im Wesentlichen basiert die Publikation auf einer früheren Arbeit einer bekannten Schlieremerin. Im Auftrag der damaligen Schweizer Bankgesellschaft verfasste die 2011 verstorbene Historikerin Ursula Fortuna eine Festschrift. Anlässlich der Einweihung der Bankfiliale an der Zürcherstrasse im Jahr 1996 wurde diese publiziert.

«Das Werk von Dr. Fortuna ist leider wenig bekannt. Mit der Aufnahme in die Reihe unserer Jahrhefte möchten wir die Verbreitung dieser wertvollen Arbeit unterstützen», schreibt der ehemalige Stadtpräsident und aktuelles Mitglied der Kommission für Ortsgeschichte, Peter Voser, im Vorwort. Gemeinsam mit Fortunas Arbeit und dem im Jahr 2013 erschienenen Jahrbuch zum Thema «Mit Schwung ins neue Jahrtausend», das die bauliche Entwicklung der Nullerjahre aufzeigt, ist nun ein gesamtheitliches Bild darüber, wie Schlieren baut und plant, vorhanden.

71 Wohnhäuser in 5 Jahren

Zur Epoche vor 1812 und den 45 Bauernhäusern in Schlieren gibt es bezüglich der baulichen Entwicklung gar nicht viel zu sagen. Denn ein Blick ins Besitzverzeichnis des Zürcher Spitals zeigt, dass Schlieren bereits im Jahr 1695 etwa dieselbe Ausdehnung aufwies. Schlieren war ein Bauerndorf – nicht mehr und nicht weniger.

Die entscheidende Wende zu einer Industriegemeinde vollzog sich, so Fortuna, zwischen 1895 und 1900. In diesen fünf Jahren wurden nur ein neues Bauernhaus und 36 landwirtschaftliche Nebengebäude erstellt. Dem seien rund 40 Industrie- und etwa 15 Gewerbebauten gegenübergestanden. Einschliesslich der Gaswerksiedlung entstanden in dieser Zeit zudem 71 reine Wohnhäuser – ein Quantensprung.

Zuzug der Industrie

Die Angestellten der zahlreichen Industriebetriebe mussten irgendwo wohnen. Begonnen hatte der Zuzug der Industrie bereits 1868 mit der Leimfabrik von Geistlich, gefolgt von kleineren Industriebetrieben der Lack-Branche, dem neuen Gaswerk der Stadt Zürich (1898) und der Wagenbaufirma Geissberger (1896), dem Vorgänger-Unternehmen der Waggons-Fabrik.

Der nächste Meilenstein folgte 1914, als eine Neuerung in Schlieren ankam, ohne die Orientierung heute kaum vorstellbar ist. Es wurden Strassennamen und Hausnummern eingeführt. «Wegen der ständig wachsenden Gebäudezahl wurde es unmöglich, sich wie bisher an der Versicherungsnummer zu orientieren», schreibt Fortuna.

Einfamilienhaus dominiert

Obwohl immer mehr gebaut wurde und mehr und mehr Arbeitskräfte nach Schlieren zogen, dominierte bis zur Jahrhundertmitte das bescheidene Ein- und Zweifamilienhaus mit Garten. Spuren von dieser baulichen Tradition finden sich noch immer zwischen Zentrum und Kesslerstrasse im südwestlichen Gemeindegebiet und im Zelgliquartier, so Fortuna.

Ziemlich genau vor 120 Jahren entwickelte Schlieren seinen ersten Bebauungsplan. 1897 wollte man damit die «explosiv anwachsende Bautätigkeit in geordnete Bahnen lenken.» Im Verlauf des vergangenen Jahrhunderts wurde dieser stets angepasst und erweitert. Bei der Entwicklung der Gestaltungspläne liegt ein weiterer Fokus der Publikation.

Und auch die Abweichung von den kantonalen und kommunalen Gestaltungsplänen wird thematisiert. Der erste private Gestaltungsplan der Stadt Schlieren war jener im Gebiet Meuchwies. Nördlich des Rietbachs und östlich der Bernstrasse hätte man gewerbliche Nutzung und Wohnraum erstellen sollen. Der positive Entscheid des Gemeindeparlaments aus dem Jahr 1992 wurde jedoch wegen eines Rekurses rückgängig gemacht.

Zu grosse Abweichung

Viel erfolgreicher war der private Gestaltungsplan Färbiareal, der erste Gestaltungsplan der Stadt, der auch tatsächlich zum Tragen kam, wie es im Jahrheft heisst. Auf dem 44'000 Quadratmeter grossen Areal, wo über lange Jahre mit Autos gehandelt wurde, wurde in der Folge das Gebiet «Am Rietpark» geplant und gebaut. Es folgten die privaten Gestaltungspläne Wagi Süd, der öffentliche Gestaltungsplan Schlieren West und der private Gestaltungsplan Geistlich-Areal, die zwischenzeitlich allesamt realisiert wurden.

Einzig der private Gestaltungsplan Unterrohr, der das Gebiet der ehemaligen Kühlschrankfabrik Sibir betrifft, wird wohl nicht so rasch umgesetzt. Gestützt auf ein Bundesgerichtsurteil wurde die Umnutzung von einer Industrie- in eine mehrheitliche Wohnzone als zu grosse Abweichung interpretiert. Dass der Kanton den Gestaltungsplan genehmigt, sei daher als wenig aussichtsreich interpretiert worden.

Bürobauten sind Cremeschnitten

Fortuna widmete sich aber nicht nur der baulichen Tätigkeit, sondern auch der Art und Weise des Bauens. Hinsichtlich dieser ereignete sich Bemerkenswertes im Jahr 1834. Bis zu diesem Zeitpunkt war lediglich die Kirche ein Steinbau. Alle Wohnhäuser wurden aus wechselnden Mischungen von Mauerwerk, Riegel oder Holz erstellt. Der Chirurg Jakob Bräm, der erste in Schlieren praktizierende Arzt, liess sich ein völlig steinernes Wohnhaus bauen. 1961 wurde es abgerissen und die «Linde» darauf erstellt. Heute wirten darin die Besitzer von «Rollis Steakhouse».

Wie in vielen Schweizer Städten hielt zu dieser Zeit, etwa nach 1950, auch in Schlieren die sogenannte «Cremeschnittenarchitektur» Einzug. «Bei dieser werden Betonschichten, vornehmlich gebildet aus Balkonbrüstungen oder Fassadenverkleidungen und verschatteten Fensterpartien, horizontal abwechselnd übereinandergeschichtet», so Fortuna. Paradebeispiel hierfür seien viele Bürobauten entlang der Zürcherstrasse.