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Leben
Der Zürcher Historiker Kijan Espahangizi findet die aktuelle Rassismusdebatte überhitzt und zu einseitig. Die Schweiz habe eine lange Geschichte der Fremdenfeindlichkeit, aber auch eine lange Historie der Solidarität. Beides müsse mehr thematisiert werden.
Sie plädieren für mehr Ruhe und Sachlichkeit in der Rassismus-Diskussion. Die Wut vieler Demonstranten und Aktivistinnen hat sich aber über lange Zeit angestaut, sie sind frustriert.
Kijan Espahangizi: Ich habe selbst viel Rassismus erfahren und auch ich bin wütend. Es ist wichtig, diese Wut anzuerkennen und sich zu fragen, woher sie kommt. Die entscheidende Frage ist aber, ob aus der Wut etwas Konstruktives gemacht werden kann, wie etwa auch in der Frauenbewegung. Die Verantwortung dafür tragen wir alle. Aus Wut über Unrecht, darf kein neues Unrecht entstehen. Wut kann sehr selbstgerecht sein und sich selbst verstärken, auch das weiss ich aus eigener Erfahrung. Nachsichtig sein, auf den Kontext achten und auch selbstkritisch bleiben, kann da helfen.
Auch in der Schweiz wird unter anderem mit dem BlackLivesMatter-Hashtag demonstriert. Ist das der richtige Slogan um in der Schweiz auf Rassismus aufmerksam zu machen?
Wenn wir die Entwicklungen in den USA zum Anlass nehmen, die hiesigen Probleme anzugehen, dann ist das sehr zu begrüssen. Rassismus gibt es auch in der Schweiz, im Alltag, bei der Wohnungs- und Arbeitsuche, bei Sozialhilfe- und Einbürgerungsentscheiden. Es besteht allerdings auch die Gefahr, dass die Debatte zu stark durch den Blick auf die USA geprägt wird. Rassismus hat dort ein ganz anderes Ausmass als in der Schweiz, was man etwa auch beim Thema Polizeigewalt sieht. Die USA sind tief gespalten. Da muss man vorsichtig sein, die aufgeheizte Stimmung nicht einfach via Social Media zu importieren.
Sie sind Historiker, woher rührt denn der Rassismus in der Schweiz?
In der Schweiz äussert sich der Rassismus vor allem bei der Frage, wer als «fremd» oder «ausländisch» wahrgenommen wird und hängt eng mit dem Thema Einwanderung zusammen. Eine wichtige historische Rolle spielen hier der Antisemitismus, die Ausgrenzung von Fahrenden, Roma, die Diskriminierung von ArbeiterInnen aus Süd- und Osteuropa und seit den 1980/90er Jahren von Flüchtlingen vom Balkan, aus Asien, muslimischen Ländern, Lateinamerika, Afrika. Auch in der Schweiz gibt es antischwarzen Rassismus. Die dominante schwarz/weiss-Brille des US-Rassismus verstellt jedoch tendenziell die Sicht auf die Situation bei uns und sollte daher nicht einfach übernommen werden. Familiengeschichten und Erfahrungen von Menschen lassen sich hier eben nicht einfach an der Hautpigmentierung ablesen, auch wenn diese sehr hell ist.
Gerade hat sich die Abstimmung zur sogenannten «Schwarzenbach-Initiative gegen Überfremdung» zum 50. Mal gejährt. Unter den Aktivistinnen und Demonstranten schien das kein Thema zu sein.
Ich freue mich über die aktuellen Proteste und solidarisiere mich mit ihnen. Es ist aber bedenklich, wenn junge AktivistInnen die Geschichte der Proteste in den USA besser kennen als die Geschichte des Rassismus und Antirassismus in der Schweiz. Dass der Jahrestag der Schwarzenbach- Abstimmung hier kaum aufgegriffen wurde, ist bezeichnend. Da müssen wir drüber sprechen, ohne die Dinge gegeneinander auszuspielen. Wenn die aktuellen Proteste eine nachhaltige positive Wirkung in der Schweiz haben sollen, sollten wir vor allem von den tatsächlichen Verhältnissen hier im Land ausgehen.
Inwiefern hallt die Schwarzenbach-Initiative bis heute in der Schweiz nach?
Die Abstimmung von 1970 war ein Wendepunkt in der neueren Schweizer Geschichte. Hunderttausende ausländische Mitmenschen sassen sprichwörtlich auf gepackten Koffern und fürchteten um ihre Zukunft. Es gab rassistische Übergriffe, verbal und auch handgreiflich. Die Verletzungen von damals sind bis heute kaum öffentlich aufgearbeitet. Die Abstimmung steht am Anfang einer langen Kette von Antiüberfremdungsinitiativen, die das gesellschaftliche Klima bis heute immer wieder durch latenten und auch expliziten Rassismus vergiften. Gleichzeitig hat sie aber auch eine Welle der Solidarität angestossen. Man denke etwa an die breite Mitenand-Bewegung in den 1970ern, die im kirchennahen Kontext begann. Menschen mit und ohne Migrationshintergrund, mit und ohne Rassismuserfahrung setzen sich seitdem zusammen gegen Rassismus und für Öffnung und Inklusion ein. Und sie haben viel erreicht.
Wütend oder zumindest verletzt sind gerade aber auch viele Schweizer und Schweizerinnen, die plötzlich als «weisse» Rassisten dastehen, weil sie ein falsches Wort benutzen
Nicht jeder, der Zweifel hat, ob problematische Wörter aus der Sprache entfernt werden sollten und fragt, woher man kommt, ist deswegen ein Rassist. Nicht jede, die eine helle Hautfarbe hat, ist deswegen «weiss privilegiert» oder stammt aus einer Familie, die von Kolonialgeschichte profitiert hat. Nicht jede, die Rassismus erfährt, ist selbst frei von rassistischen Denkweisen. Rassismus darf nicht verharmlost werden, aber moralischer Rigorismus und identitäre Ansätze helfen uns auch nicht weiter, auf keiner Seite. Das Leben ist meist komplizierter als eine einfache Gegenüberstellung von Opfern und Tätern. Klar ist aber auch, das darf keine Ausrede sein, hinter der man sich versteckt, um nicht an sich arbeiten zu müssen. Es ist Zeit zum Handeln!
Gerade scheint es, als ob wir in der Schweiz nicht imstande wären Rassismus zu diskutieren. Stattdessen verhärten sich die Fronten nur, täuscht dieser Eindruck?
Zunächst mal finde ich es richtig und wichtig, dass wir ernsthaft über Rassismus sprechen. Aber ja, das Thema hat auch das Potenzial, zu polarisieren und Gräben zu vertiefen. Das bereitet mir schon auch Sorgen. Deswegen stehen alle, die an der Diskussion teilnehmen, in der Verantwortung zuzuhören, gerade auch dann, wenn es schwerfällt. Die Medien haben hier auch eine besondere Pflicht, die Empörungskultur der letzten Jahre nicht einfach weiter zu bewirtschaften. Der Streit darum, ob eine Süssigkeit rassistisch ist oder nicht, mag sich medial gut verkaufen, aber so wie es jetzt läuft, bringt uns das schlicht nicht weiter. Alltagsrassismus spiegelt sich auch in Worten wider, keine Frage, aber dass das Thema so viel Aufmerksamkeit kriegt, während wir kaum über die aktuellen Verschärfungen im Ausländer- und Bürgerrecht sprechen, ist schon recht augenfällig.
Sie sagen, dass sich in der Schweiz ein Demokratiedefizit angestaut hat. Was meinen Sie damit?
Die Schweiz hat sich in den letzten Jahrzehnten durch Einwanderung stark verändert. Egal wie man dazu steht, das ist eine irreversible Tatsache. Ich schlage daher vor, pragmatisch von dieser sozialen Realität auszugehen und nicht von einem imaginären Wunschvolk. Dazu müssen wir neu fragen: Wer ist heute die Schweiz? Wer gehört dazu, wer kann wie teilhaben, wer wird ausgegrenzt? Ein Viertel der dauerhaften Wohnbevölkerung hat kein hiesiges Bürgerrecht und gilt selbst in der dritten Generation noch als ausländisch, auch weil die Einbürgerungshürden so hoch und die Vorstellung, wer Schweizerin sein kann, so exklusiv sind. Das hat nicht nur, aber auch etwas mit Rassismus zu tun. Für alle, die an einer nachhaltigen Zukunft der Schweizer Demokratie interessiert sind, ist das ein unhaltbarer Zustand. Die Schweiz hat hier ein Demokratiedefizit angehäuft und braucht dringend ein Update. Ich plädiere daher für ein grundlegendes Umdenken, für die Gestaltung einer Schweiz, für alle, die da sind und die noch kommen werden.