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Leben
Vor 100 Jahren, am 14. Juni, starb Max Weber. Sein Werk gleicht einem Steinbruch. Es gibt eine Soziologie vor und nach ihm.
Geboren am 14. Juni, 1864 wurde Max Weber. In den ersten Jahren des deutschen Kaiserreichs – heute würde man sagen – wurde er «sozialisiert». Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war ein schwierig zu verstehendes Land. Einerseits enorm fortschrittlich und progressiv in Industrie, Wissenschaft und Forschung; andererseits kaum den Krähwinkeln der Fürstentümer entwachsen.
Grosse innere Gegensätze waren auszuhalten, Stadt und Land, Industrieproletariat und Junkertum. Das blieb nicht ohne Spuren im Auftreten nach aussen. Entstanden war Deutschland aus Kriegen. Kriege, die Preussen zuerst – unter der Vorspiegelung der deutschen Einheit – gegen deutsche Königreiche entfesselt hatte, und dann auch noch gegen den Erzfeind Frankreich. Das schuf jene brisante Konstellation, von innerer Zerrissenheit und dröhnendem Auftreten nach aussen, die schliesslich in den Ersten Weltkrieg münden sollte.
Max Weber begann als Jurist, realisierte aber von Beginn seiner akademischen Karriere an, dass die Rechtsverhältnisse nur Ausdruck waren von grundlegenderen Kräften. Die Art und Weise, wie eine Gesellschaft ihren Unterhalt produziert und diese Verhältnisse rechtfertigt, ist entscheidend.
Aber anders als Karl Marx reduzierte Weber seine Einsicht nicht auf eine griffige Formel wie den «Klassenkampf», sondern entwickelte in allen seinen Analysen ein kompliziertes Geflecht von sich gegenseitig beeinflussenden und aufhebenden Kräften, eine Gesellschaft ist – physikalisch-mathematisch gesprochen – immer eine Resultante. Ein Gleichgewicht, das sich einspielt, manchmal erstarrt und manchmal wieder durcheinandergewürfelt wird.
Marx hatte in seiner Analyse die «realen» Kräfte von den «ideologischen» unterschieden. Die materielle Produktionsstruktur war das Reale, der Rest ein «Überbau». Weber sah das grundlegend anders. Natürlich will der Mensch zuerst einmal essen, sich kleiden und wohnen. Aber immer spielen gesellschaftliche Verhältnisse hinein. Und die werden nicht durch den materiellen Unterbau bestimmt, sondern sie haben ihr Eigenleben.
Sie entstehen, werden übernommen und weitergeführt, dann gruppieren sie sich neu. Dieses Zusammenspiel aufzuzeigen und auch zu entlarven, – denn es verkleidet sich gern als Selbstverständlichkeit, die keiner Aufklärung bedarf, – das war Max Webers Thema.
Mit Max Weber kann man viel machen. Er hinterliess ein Riesenwerk, Tausende Seiten, aber keinen Hit, kein ikonisches Buch, das ein Klassiker geworden wäre wie «Das Kapital». Er war fähig, Sätze von babylonischer Wirrheit zu bauen, gleichzeitig ist er Urheber schlagwortartiger Zitate, aus denen sich Politiker bis heute bedienen.
Als junger Wissenschafter war er fähig, eine anspruchsvolle Studie von über 800 Seiten innerhalb eines Jahres aus dem Boden zu stampfen. Er war berühmt-berüchtigt für seine Produktivität; gleichzeitig litt er sein ganzes Leben lang an Depressionen und stand mehr als einmal am Rand dessen, was wir heute beschönigend «Burn-out» nennen. Einmal erwischte es ihn so hart, dass es ihn für längere Zeit aus dem Verkehr zog.
So lässt sich auch der Kern seines Werks als griffige Schlagzeile formulieren. Was sie eigentlich bedeutet, muss man aus dem Werk zusammensuchen. Was ihn antrieb, war die Frage: Warum gerade bei uns? Warum hat sich alles, was die Moderne ausmacht, Kapitalismus, Naturwissenschaft und Technik, gerade bei uns entwickelt und nicht anderswo auf der Welt?
Um die Frage zu beantworten, muss man «genealogisch» vorgehen. Man muss verstehen, wie und warum es dazu gekommen ist. Und gleichzeitig muss man auch analytisch vorgehen: Was unterscheidet unsere Lebensweise und Kultur mit Kapitalismus, Wissenschaft und Technik von anderen Kulturen? Was macht sie aus?
Kurz: Wer die Moderne verstehen will, der muss Max Weber lesen.
Das ist, man ahnt es, nicht ganz einfach. Und es wird hier holzschnittartig bleiben müssen. Sehr holzschnittartig. Webers Erkennungsmelodie ist «Rationalisierung». Darunter kann man alles Mögliche verstehen. Darum ganz einfach: Abscheu vor der Magie.
Ein Beispiel hilft: Wir haben eine Krankheit. Zum Beispiel Fieber. Gegen Fieber helfen warmer Tee und feuchte Socken, solche Hausmittelchen, das weiss man aus der Erfahrung, helfen. Das ist eben gerade Magie, sagt der Rationalist. Wir müssen nach der eigentlichen Ursache der Krankheit suchen. Nicht die Symptome bekämpfen. Das heisst: Wir brauchen eine Theorie der Krankheit. Daraus entwickeln wir dann die Mittel gegen sie. Rationalisierung heisst, die eigentlichen Gründe finden.
Auf der Suche nach diesen eigentlichen Gründen ist der moderne Mensch dann der Wissenschaft verfallen und schliesslich auf die Idee vom Tod Gottes gekommen. Weber nennt die Entwicklung die
Entzauberung der Welt
Die Aufklärung hat uns befreit vom Schrecken dunkler Mächte, sie hat Licht gebracht. Das ist die positive Seite. Andererseits hat dieses Sicherheitsbedürfnis aus unserer Gesellschaft «ein stahlhartes Gehäuse» gemacht, das uns nicht nur schützt, sondern auch einschliesst. Wir wollen wissen, was wir tun. In der Wirtschaft heisst das: Was geht rein und was kommt raus? In Zahlen: Investition und Gewinn. Wir glauben nicht mehr; wir glauben, alles berechnen zu können.
Am Ersten Weltkrieg nahm Weber als Reserveoffizier teil. Die Niederlage Deutschlands liess ihn nicht unbeteiligt. Darüber geben seine berühmtesten Reden, die er in jenen Jahren kurz vor seinem Tod noch hielt, Aufschluss: «Wissenschaft als Beruf» und «Politik als Beruf».
Beide sind ziemlich desillusionierend. Wissenschaft taugt nicht als Ersatz für Religion, beschied Weber seinen jungen Zuhörern. Von der wissenschaftlichen Karriere könne er nur abraten. Und «Wahrheit» werde man auch nicht finden. Eine Leerformel sei das wie «Glück», «soziale Gerechtigkeit» oder «moralischer Fortschritt». In der Praxis sei das Schicksal Spezialisierung. Viel wissen über ganz wenig. Trostlos.
Die Politik ist nicht besser. Das war besonders bitter für seine jungen Zuhörer. Jetzt, wo sich in Deutschland endlich eine Möglichkeit für politische Mitwirkung und Gestaltung eröffnete. Politik habe immer mit Macht zu tun, auch wenn sie sich gern in «Gemeinwohl» und dergleichen verkleide.