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Leben
Corona auf dem Lande, wo das Leben ruhig weitergeht und eine Sorge jene ist, wo man jetzt Gartenerde bekommt.
Ein Virus hat die Schweiz lahmgelegt. Die Städte sind wie leergefegt, die Züge fahren nicht mehr richtig, Grenzzäune werden aufgestellt. Ausnahmezustand überall, Lockdown. Fast überall. In meinem Dorf gibt es nicht viel, was runtergefahren werden könnte. Es gibt hier nur drei Läden: Bäckerei, Metzgerei und Volg, und in keinem halten sich durchschnittlich mehr als drei Personen auf. Der Bus fährt auch zu coronafreien Zeiten selten und meist halb leer. Die letzte verbliebene Dorfbeiz ist schon lange keine mehr und hat jetzt ein Plakat draussen: «Jeden Mittag Pizzaservice».
Auf dem Dorf leben wir in einem dauerhaften, selbst gewählten Lockdown. Die grossen Feste werden nicht hier gefeiert, die wichtigen Reden nicht hier gehalten. Das Leben tobt hier nicht, es fliesst ruhig dahin. Seit Covid-19 umgeht noch etwas ruhiger. Der Turnverein turnt nicht mehr, die Lehrerinnen sitzen in leeren Schulzimmern und das Chorkonzert ist abgesagt. Aber der Bauer spritzt weiter seine Obstanlage, Baukräne drehen ihre Kreise, Kinder springen auf ihren Trampolinen, die Mütter schwatzen über den Gartenhag. Social Distancing, das muss man hier auf dem Dorf niemanden erklären. Eine Heckenbreite Abstand zum Nachbarn hat man automatisch und Dichtestress herrscht nur am Dorffest und an sehr heissen Sonntagen im Freibad.
Bei einer Familie in unserer Strasse ist ein Gartenbauunternehmen emsig daran, die Wiese rund ums Haus in ein Spiel- und Gartenparadies zu verwandeln. Spielturm, Sandkasten, Schaukel, Pergola und Grillstelle, es wirkt unfreiwillig wie ein Aufrüsten gegen Corona. Die Welt soll draussen bleiben. Wir machen es uns jetzt selber schön. Was Städter jetzt im Notfallmodus lernen müssen, zelebrieren Landeier schon lange: den Rückzug ins Private. Im eigenen Garten jäten, in der eigenen Werkstatt hämmern, die eigenen Hühner füttern, in der eigenen Garage die Velos flicken, auf dem eigenen Hometrainer trainieren, auf der eigenen Feuerschale grillieren. In den Einfamilienhaussiedlungen, die dieses Land durchziehen wie ein Bandwurm, wird der Rückzug ins Private seit 50 Jahren geprobt. Jetzt ist der Ernstfall, und der Traum vom Eigenheim wird zur kollektiven Sehnsucht.
Zu Hause sein, kochen, backen mit den Kindern spielen, am Sonntag ein Spaziergang im Wald, abends Tatort. Auf den sozialen Medien posten urbane Menschen Bilder genau dieser Tätigkeiten und versehen sie mit Hashtags wie #stayathome. Wer auf dem Land lebt und dazu noch Kinder hat, der kann darüber nur milde lächeln. Plötzlich wird eine Lebensweise, die bis vor einer Woche als weltabgewandt galt, instagramable. «My home is my castle»: Der Kalenderspruch vom trauten Heim, Glück allein, kommt jetzt als Corona-Castle 2.0 zurück. Die eigenen vier Wände werden zur letzten Bastion. Der eigene Garten, schon vorher ein Privileg, ist jetzt das letzte Stück virenfreie Welt.
Dazu passt die Studie «The Indoor Generation» des dänischen Bauprodukte-Herstellers Velux. Darin ist zu lesen, dass es «eine wachsende Zahl von Menschen gibt, die im Vergleich zu früheren Generationen den grössten Teil ihrer Zeit in geschlossenen Räumen verbringen». Cocooning nennen die Trendforscher diesen Rückzug ins kuschelige Daheim, der seit einiger Zeit zu beobachten ist. Mit Corona ist aus dem Trend eine Anordnung geworden.
Die ältere Dame aus meinem Dorf, die jeden Tag in ihrem Garten werkelt, hat von Cocooning noch nie etwas gehört. Über den Gartenhag hat sie mir jedoch zugerufen, dass sie dieses Runterfahren gerade richtig gut fände. Nicht für sich, für die anderen, die Städter. Die würden schon merken, wie schön das doch sei. Eine gewisse Genugtuung war deutlich herauszuhören. Das Einzige, was die Dame mit ihrem grossen Garten wirklich aufregt, ist, dass sie keine Gartenerde mehr kaufen kann. Ich habe ihr meine Gartenerde geschenkt. Das wäre ja noch, dass sie keinen Spinat anpflanzen kann.