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Leben
Nach dem Lockdown haben viele das Gemüsegärtnern entdeckt. Nun ist es an der Zeit, ein eigenes Erntedankfest auszurichten.
Wie süss die Früchte der Arbeit doch schmecken! Alle, die im Coronafrühling das Gärtnern als Beschäftigungstherapie entdeckten und damit begannen, Gemüse anzubauen, wissen nur zu gut, was das bedeutet. Seit Beginn der Pandemie ist die Anzahl an Hobbygärtnern stark gestiegen. Allerorts wurde Platz geschaffen, um sich mit dem Anbau von Tomaten, Zucchini, Erdbeeren und Gemüse und anderen Früchten die Zeit zu vertreiben.
Man erinnert sich an sorgenvolle Tage im Frühling, weil die Pflanzensprösslinge vor den Eisheiligen gepflanzt wurden und zu erfrieren drohten, auch an den Sommer, als Salate und Peperoni kurz vor dem Vertrocknen waren. Nur zwei Beispiele von vielen, die zeigen: Hobbygärtner bauen oft eine innige Beziehung zu ihren Pflanzen auf. Freaks geben ihnen sogar Namen, etwa «Herr Lauch» oder «Belle Helène».
Diese Beziehung sorgt nun dafür, dass Selbstgepflanztes und -geerntetes mit einer grösseren Dankbarkeit verzehrt wird als schönes Supermarktgemüse. Und es gibt einem eine Ahnung davon, wie intensiv der Bezug zum Gepflanzten und zur Natur in Zeiten gewesen sein muss, als es noch keinen Detailhandel gab: Ein Ernteausfall konnte Hunger und Tod bedeuten. Nach einer erfolgreichen Ernte gemeinsam ein Fest zu feiern, um Gott, dem Wetter und allen Helfern zu danken, liegt deshalb nahe.
Die Römer dankten Ceres, der Göttin des Ackerbaus, und die Ägypter des Altertums ehrten im Frühjahr die Fruchtbarkeitsgöttin Min. Doch während in den USA das Thanksgiving mit Truthahn und der ganzen Familie am Tisch einer der wichtigeren nationalen Feiertage ist, sind die hiesigen Bräuche und Festessen regionaler und ruraler.
Traditionell finden zum Erntedank etwa die Jahrmärkte statt. Vor lauter Chilbi, Bahnen und Zuckerwatte geht heute vergessen, dass dieser Brauch auf das Mittelalter zurückgeht, als Gutsherren ein Fest ausrichteten, um sich bei den Bauern zu bedanken. Auch andere in der Schweiz gepflegten Erntedankbräuche gehören für viele Menschen zum Herbst: Bei der «Sichlete» in Bern bringen die Bauern Mitte September ihre Waren in die Stadt, wo Festwirtschaft, Fahnenschwingen und Marktstände auf sie warten. Viehschauen und Alpabzüge sind gleichfalls Bestandteil der helvetischen Tradition.
Von der Kernser Alpabfahrt in Obwalden bis zur «Züglete» in Gstaad: Überall kehren die mit viel Liebe dekorierten Tiere nach viermonatiger Alpzeit ins Tal zurück. Im Justistal oberhalb des Thunersees treffen sich am Tag des Alpabzugs Bauern und Besucher zur «Chästeilet», bei der die auf der Alp hergestellten Käselaibe verteilt werden.
Da unterschiedliche Klimazonen individuelle Erntezeiten bedeuten, ist Erntedank nicht an ein Datum gebunden. Thanksgiving in den USA etwa wird erst Ende November gefeiert. In der Schweiz wiederum gehen die meisten Feste im September oder Oktober über die Bühne.
In der Römisch-katholischen Kirche gibt es Belege der Bauernfeiertage, die nahezu zweitausend Jahre alt sind. Dazu gehört, dass vor dem Altar die Feldfrüchte, das Getreide und das Obst zu einem leuchtend bunten Arrangement zusammengestellt werden. Manchenorts wird aus Getreide oder Weinreben eine Erntekrone geflochten, die während einer Prozession durch das Dorf getragen wird.
Im Bündnerland wiederum finden sich im 200-Seelen-Dorf Valchava im Val Müstair am ersten Sonntag im Oktober Jahr für Jahr mehr als 5000 Menschen zur «Festa e marchà da racolta» ein. Auf einen Feldgottesdienst folgt ein Umzug mit Musik und in traditionellen Trachten. Madeleine Papst von der touristischen Marketing-Organisation für das Unterengadin, Samnaun und Val Müstair erklärt:
Das Fest ist nicht nur Folklore. Es stellt für die Einheimischen ein wichtiges Ereignis im Jahreskalender dar.
Zahlreiche Marktstände mit regionalen Gaumenschmäusen sorgen zusätzlich dafür, dass Bräuche wie dieser lebendig bleiben.
Aufgrund der Pandemie fanden und finden dieses Jahr allerdings keine Festivitäten statt. Wer allerdings dem Hobbygärtnern gefrönt hat, kann sein ganz persönliches Erntedankfest in den eigenen vier Wänden zelebrieren. Egal, ob mit oder ohne religiösen Hintergrund: Wertschätzung und Demut gegenüber vordergründig Selbstverständlichem sind gerade in diesem Jahr topaktuell.
Wer sich ins Bewusstsein ruft, wie gross der Aufwand ist, den der Anbau einer simplen Tomate vom Samen bis zur Frucht mit sich bringt, der wird kein Food-Waste mehr betreiben. Essen ist ein wertvolles Gut, und Feste, die dieses zum Thema machen, haben mehr denn je ihre Daseinseinsberechtigung.