Viele junge Menschen versuchen, sich schlank zu hungern. Oft nehmen die Betroffenen ihren Körper völlig anders wahr, als er in Wirklichkeit aussieht. Ein neuartiges Therapieverfahren setzt an dieser Stelle an – über die Stimulation des Tastsinns.
Eine Frau mit langen blonden Haaren und hohlen Wangen, etwa 16 Jahre alt, steht vor dem Spiegel. Ihre Oberarme sind Haut und Knochen, um die schmale Körpermitte hat sie ein Stofftuch geschnürt. «Ich bin so fett», sagt sie angewidert. Gabriele Riess, ihre Therapeutin, steht hinter ihr, hält sie an den Hüften und schüttelt sanft den Kopf. «Ich weiss, dass Sie das anders sehen», sagt die Teenagerin nach einer Weile leise. «Aber ich empfinde es halt so.»
Alltag in der Therapiepraxis von Gabriele Riess. Seit bald 30 Jahren arbeitet sie mit Patientinnen, die an Essstörungen leiden. Früher in der psychiatrischen Abteilung der Berliner Universitätsklinik Charité, seit vier Jahren in ihrer Privatpraxis in Berlin-Kreuzberg. Mehr als 150000 Frauen und Männer leiden in Deutschland an Magersucht. Und in der Schweiz sind Essstörungen im europäischen Vergleich sogar besonders häufig: Über 50000 Frauen erkranken hierzulande im Lauf ihres Lebens an Magersucht (Anorexie), ergab eine Studie des Bundesamts für Gesundheit.
Anorexie ist lebensgefährlich. Bis zu 20 Prozent der Betroffenen sterben an dieser Krankheit oder begehen Suizid. Kein Medikament wirkt dagegen. Auch Gesprächstherapie bringt allein oft keine Besserung. Riess aber kann vielen Betroffenen helfen: über den Tastsinn. «Dieser Sinn wird in der Forschung noch immer stark vernachlässigt», sagt der Psychologe Martin Grunwald von der Universität Leipzig. Er ist der einzige Wissenschafter in Deutschland und der Schweiz, der ausschliesslich zu diesem Thema arbeitet. «Psychologen betrachten Gedanken, Gefühle und Gedächtnis viel zu oft als vom Körper getrennt», kritisiert er. Dabei könne man therapeutisch über den Tastsinn oft viel mehr erreichen als auf verbalem Weg.
Bei schweren psychischen Erkrankungen ist dieser Sinn manchmal gar die einzige Chance auf Heilung, weiss die erfahrene Therapeutin Gabriele Riess: insbesondere bei Magersucht. Für die Entstehung dieser Krankheit werden neben genetischer Veranlagung und Schicksalsschlägen vor allem problematische Schönheitsideale verantwortlich gemacht. Doch schon in ihren ersten Jahren an der Charité fiel Riess auf, dass viele Betroffene nicht nur ausgehungerten Models nacheifern. Sie scheinen ihren Körper völlig anders wahrzunehmen, als er tatsächlich aussieht. Manche spreizen die Arme weit ab. «Ich bin fett», sagen viele, obwohl sich ihre Knochen durch die Haut drücken. Ob sie das wirklich glauben? Riess nickt. Der «Seiltest» sei ein guter Beleg dafür, sagt sie und greift einen Strick aus dem Regal. Bei diesem Test sollen Patientinnen den Umfang ihrer Taille schätzen und mit einer Seilschlinge darstellen, erklärt sie, und formt eine Schlinge, die einen Männeroberschenkel umfassen könnte. «Der typische Taillenumfang einer Magersüchtigen.» Viele Betroffene hingegen schätzen ihre Taille selbst mit einer dreimal so grossen Schlinge ein.
Martin Grunwald hat solche Phänomene genauer untersucht. Ursprünglich wollte er in den 1990er Jahren erforschen, was im Gehirn passiert, wenn Menschen sich «bildliche Vorstellungen» machen. Er verband Probanden die Augen, liess sie mit dem Zeigefinger Reliefs ertasten und mass dabei mit Hilfe des EEGs ihre Hirnströme. Anschliessend sollten die Probanden das ertastete Relief zeichnen, was in der Regel gut gelang. Bei einer der 50 Testpersonen war das anders: Sie tastete das Relief ungewöhnlich lange ab. Und die EEG-Kurven zeigten, dass sie sich dabei sehr anstrengte. Doch die Zeichnung, die sie schliesslich anfertigte, hatte keinerlei Ähnlichkeit mit dem Relief. Dabei war diese Probandin eine erfolgreiche Studentin. Einzig auffällig: Sie war sehr dünn. Ob sie an Magersucht leidet?, fragte sich der Forscher. Und falls ja: Könnte das mit ihrer Tastsinn-Schwäche zusammenhängen?
In der Folge testete Grunwald jahrelang Magersüchtige und gesunde Personen gleichen Alters. Alle essgestörten Probanden schnitten beim Ertasten von Reliefs deutlich schwächer ab als die Kontrollgruppe. Und die elektrische Aktivierung in Gebieten der rechten Hirnhälfte war bei ihnen geringer als bei den Gesunden. «Sehr viele Magersüchtige haben eine funktionelle Störung rechts-parietaler Hirnregionen, die zu starken Einschränkungen bei der Tastsinneswahrnehmung führt», fand Grunwald heraus. Noch spannender:
Die Ergebnisse legen nahe, dass solche Defizite die Ursache für die Störung des Körperschemas – des inneren Bilds, in dem das Gehirn die dreidimensionale Gestalt des Körpers speichert – bei Magersüchtigen sind.
Weitgehend gesichert ist, dass sich das Körperschema allein über die Sprache nicht verändern lässt. «Es bringt also nichts, Magersüchtige verbal auf ihre Unterernährung hinzuweisen», sagt Grunwald. Stattdessen empfiehlt er eine Intensivbehandlung mit taktilen Reizen, um dem Tastsinnsystem auf die Sprünge zu helfen. Gabriele Riess kann die Wirksamkeit dieses Ansatzes bestätigen: «Viele meiner Patientinnen haben bereits alles erlebt, was die Psychiatrie zu bieten hat.» Von starken Antidepressiva bis hin zu Zwangsernährung. «Und nicht wenige sagen, dass ihnen nur die Körperpsychotherapie etwas bringe.» Regelmässige taktile Stimulation durch «Hinweisreize» – etwa ein Stofftuch, dass eng um den Bauch geschlungen wird – mache ihnen bewusst, wie ausgemergelt ihr Körper in Wirklichkeit ist. Dies führe am ehesten zu einem gesünderen Essverhalten.
Martin Grunwald treibt den Ansatz auf die Spitze: zum Beispiel mit Neoprenanzügen, die an Taucherbekleidung erinnern. Durch einen solchen Anzug werde der ganze Körper taktil stimuliert, sagt er: Während sich Patientinnen darin bewegen, erhalte das Gehirn besonders klare Signale, wo die Grenzen des eigenen Körpers verlaufen – und könne so nach und nach ein realistischeres Körperschema ausprägen.
Grunwalds erste Testperson war 2004 eine 19jährige Studentin. Sie wog bei 1,79 Metern Körpergrösse nur 46,5 Kilogramm. Dreimal am Tag trug sie für eine Stunde den Neoprenanzug. 15 Wochen lang. Als sie die Behandlung dann auf eigenen Wunsch beendete, hatte sie immerhin 2,5 Kilogramm zugenommen. Beim Ertasten von Reliefs schnitt sie nun besser ab, und es zeigte sich dabei eine stärkere Aktivierung im rechten parietalen Kortex. Nach zwei Monaten sank ihr Körpergewicht allerdings wieder. Immerhin: Die ehemalige Probandin hat ihre Essstörung inzwischen – nach 16 Jahren – weitgehend im Griff, arbeitet als Lehrerin und hat kürzlich geheiratet.
An der Berliner Charité, der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Salzburg sowie einigen Privatkliniken in Deutschland wird seit Jahren mit dem Neopren-Ansatz gearbeitet. Auch Gabriele Riess hält grosse Stücke auf dieses Hilfsmittel. Einige Dutzend Neoprenanzüge hat sie an der Charité über die Jahre bestellt. Manche Patientinnen tragen den Anzug ganze Tage lang unter der Kleidung. Oft mit gutem Erfolg.
Eine wissenschaftliche Studie, die eine Wirkung zweifelsfrei belegen könnte, steht noch aus. «Ein Unding», sagt Martin Grunwald. Doch leider würden viel zu selten Gelder für klinisch-psychologische Forschung bewilligt, die auch den Körper einbeziehe. «Dabei weist der Tastsinn häufig den richtigen Weg», sagt er.
Blind-taub geboren, kann man leben. Ohne das Tastsinnsystem aber wüssten wir nicht einmal, dass wir existieren.