Socken, Displays und Fahrradhelme – dieses ökologische Wundermaterial soll den Kunststoff ersetzen

Socken, Displays und Fahrradhelme – dieses ökologische Wundermaterial soll den Kunststoff ersetzen

Werden Pflanzenfasern ein wenig modifiziert, können sie in Wohnungen, Autos, ja sogar im menschlichen Körper Erstaunliches leisten.

Niklaus Salzmann
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Ein Velohelm, komplett aus Holz? Ja, das gibt es, zumindest als Prototyp.

Na ja, nicht aus jenem Holz, mit dem Schreinereien arbeiten. Vielmehr haben Forscherinnen und Forscher das Material im Labor aufgepeppt und für neue Einsatzgebiete tauglich gemacht.

Dass Helme ansonsten aus Kunststoff gefertigt werden, hat ja gute Gründe: Kunststoff lässt sich einfach in Form bringen und ist trotzdem stabil, wasserabweisend und hygienisch. Doch Kunststoff wird aus Erdöl gefertigt und wird in der Natur nur sehr langsam abgebaut, die Bilder von Plastikinseln im Meer verstören. Ideal wäre es deshalb, die Vorteile des Holzes mit jenen gewisser Kunststoffe kombinieren zu können. Genau das ist das Ziel von Ingo Burgert, Professor an der ETH Zürich, der auch in der Abteilung Holz- und Zellulosematerialien der Materialforschungsanstalt Empa tätig ist.

«Wir statten Holz mit verbesserten Eigenschaften und neuen Funktionen aus»

, beschreibt er die Arbeit seines Teams.

Seine Forschungsgruppe hat ein Verfahren entwickelt, mit dem das Holz deutlich stärker und formbar gemacht wird. Zuerst wird mit Säure das Lignin – der natürliche Klebstoff des Holzes – gelöst. Die Struktur des Holzes bleibt erhalten, doch die verbleibende Zellulose kann nass viel leichter verformt werden. Durch Pressen wird die Zellulose schliesslich verdichtet und ist nach dem Trocknen rund dreimal fester als das ursprüngliche Holz.

«Das Material hat gute mechanische Eigenschaften und könnte beispielsweise Kunststoffteile in der Automobilindustrie ersetzen»

, sagt Burgert. Die Designerin Meri Zirkelbach hat in ihrer Masterarbeit an der Hochschule Luzern Produktideen für dieses Holzmaterial entwickelt. Unter anderem präsentierte sie die Verschalung eines Autoseitenspiegels, einen Autotürgriff und eben den erwähnten Helm. Er besteht zu hundert Prozent aus Zellulose – inklusive Polster, Bändel und Verschluss. Eine Schwierigkeit dabei: Sobald das Material nass wird, verliert es seine Festigkeit. Es muss deshalb imprägniert werden. Doch auch da tun sich Möglichkeiten auf. Denn dort, wo das Lignin aus dem Holz gelöst wird, entstehen Zwischenräume, und die können mit einer Imprägnierung gefüllt werden. «Wir können beispielsweise ein Harz ins Material hineingeben», erklärt Burgert. So wird nicht nur die Oberfläche, sondern das ganze Material stärker wasserabweisend.

Holz kann auch durchsichtig gemacht werden

Wie sich Holz mit neuen Eigenschaften ausstatten lässt, wurde in der Vergangenheit bereits in einer Wohneinheit im Experimentalgebäude Nest der Empa demonstriert. Dort wirken die hölzernen Türgriffe antimikrobiell, die Pinnwand besteht aus magnetisierbarem Holz, und auch ein kaum mehr brennbares Holz wurde verbaut. In Frankreich hat derweil ein Materialforscher ein transparentes Holzmaterial erschaffen, indem er das Lignin durch einen biobasierten Kunststoff ersetzte. Damit lassen sich sogar Displays konstruieren.

Mit einem transparenten Holzmaterial könnten Displays konstruiert werden.

Mit einem transparenten Holzmaterial könnten Displays konstruiert werden.

Bild: Woodoo

Zugegeben, ob ein solches Material noch als Holz bezeichnet werden kann, ist fraglich. Korrekter ist es, von einem Zellulosematerial zu sprechen. Und Zellulose, der Grundbaustein pflanzlicher Zellwände, ist im Alltag der Menschen bereits omnipräsent: Auch Papier wird daraus gemacht. Zellulose steckt aber nicht nur in Bäumen, sondern ebenfalls in Pflanzen, die weit schneller wachsen.

Inzwischen beginnen Unternehmen, dieses Potenzial auszuschöpfen. So verpackt Coop seit Herbst 2018 Äpfel und Birnen in Kartonschalen, die zu 40 Prozent aus Gras gemacht sind. Das spart in der Herstellung Energie und Wasser. Das Gras in den Coop-Verpackungen stamme aus Deutschland, von ökologischen Ausgleichsflächen «in der näheren Umgebung der jeweiligen Papierfabrik», schreibt der Detailhändler auf seiner Website. Allerdings sind die Grasfasern den Holzfasern nicht ganz ebenbürtig, Letztere machen den Karton stabiler und können deshalb nicht komplett weggelassen werden.

Global steht jedoch nochmals ein anderer Faserlieferant stärker im Fokus: Bambus. Er wächst schnell und ist günstig in grossen Mengen verfügbar. Andrea Weber Marin hat als Professorin an der Hochschule Luzern vor einigen Jahren das Potenzial von Bambusfasern für Textilien erforscht.

«Die Fasern haben einen schönen natürlichen Glanz, ähnlich wie Seide»

, sagt sie. Sie eignen sich für Oberbekleidung wie Mäntel und Schals oder in Mischungen mit anderen Materialien. Sie sind allerdings länger und dicker als beispielsweise Baumwolle und dadurch werden die Textilien etwas steifer.

Nun ist im Handel aber auch flauschige Unterwäsche erhältlich, die mit «Bambus» beworben wird. Doch sie besteht nicht etwa aus gesponnenen und verwobenen natürlichen Bambusfasern. Vielmehr wurden in einem aufwendigen chemischen Verfahren die Zellulosefasern aus der Pflanze gelöst. Wird die Zelluloselösung durch eine Düse gepresst, entsteht eine Endlosfaser, die eher einer Kunstfaser ähnelt. In Deutschland ist es laut einem Gerichtsurteil irreführend, ein Produkt aus diesen Fasern als «Bambussocken» zu vermarkten – die korrekte Bezeichnung wäre Viskose.

Weit weniger natürlich, als es die Bezeichnung vermuten lässt, ist auch sogenanntes Bambusgeschirr. Oft zu sehen als Mehrwegkaffeebecher. Dafür werden die Zellulosefasern gelöst und danach in Form gepresst. Das Problem: Da dem Material das Lignin als Klebstoff fehlt, muss ein anderer Stoff zugegeben werden, der die Fasern zusammenhält. Dazu wird Melamin verwendet, ein Kunststoffharz. Bambusbecher bestehen also zu einem erheblichen Teil aus Kunststoff und können keineswegs auf dem Kompost entsorgt werden. Zudem können sich unter Erhitzung ungesunde Stoffe aus dem Material lösen. Diverse Anbieter haben deshalb Bambusgeschirr aus ihrem Angebot gestrichen.

Bambusbecher sind nicht nur natürlich: Sie enthalten auch reichlich Kunststoffharz.

Bambusbecher sind nicht nur natürlich: Sie enthalten auch reichlich Kunststoffharz.

Bild: Getty

Das stärkste Biomaterial der Welt besteht aus Zellulose

Es ist ein Dilemma: Je stärker die Zellulose verarbeitet wird, desto breiter die möglichen Einsatzgebiete, doch desto stärker droht sie auch die ökologischen Vorteile eines natürlichen Materials zu verlieren. Ein heisses Forschungsgebiet ist diesbezüglich die Nanozellulose. Dabei handelt es sich um besonders kleine Zellulosefasern oder -kristalle. Paradoxerweise lassen sich aus ihnen ausserordentlich stabile Materialien herstellen. Zum Beispiel kann reissfeste Folie erzeugt oder Papier verstärkt werden. Das Problem ist, dass das Holz dazu in einem teuren Prozess mit viel Energieverbrauch fein gemahlen werden muss.

Ein anderer Typ von Nanozellulose könnte in schusssicherem Glas zum Einsatz kommen. Er benötigt in der Herstellung zwar weniger Energie, aber viel Wasser und Chemikalien. Ein dritter Typ Nanozellulose wird von genetisch modifizierten Bakterien produziert. Er ist besonders rein und könnte sich deshalb unter anderem für medizinische Implantate eignen.

Im Jahr 2018 meldete eine schwedische Forschungsgruppe gar, aus Nanozellulose das stärkste aller Biomaterialien hergestellt zu haben, stärker als Stahl. Dazu mussten sie die Fasern parallel zueinander orientieren – also so, wie sie es im ursprünglichen Holz bereits waren.

Das ist aufwendig und kostet viel Energie. Deshalb wollen die Forscher um Ingo Burgert an der Empa und ETH den Schritt des Auflösens und Neuzusammensetzens vermeiden und stattdessen die ursprüngliche Struktur des Holzes erhalten.

«Ich gehe davon aus, dass Holz als nachwachsender Rohstoff in einer nachhaltigeren Gesellschaft zukünftig eine grosse Rolle spielen wird»

, sagt Burgert.