Vor einer Woche ist das Bündner Bergdorf Brienz wegen des drohenden Felssturzes geräumt worden. Die Geologinnen und Geologen des Frühwarndienstes lassen «die Insel» derweil nicht mehr aus den Augen.
Wie ein Damoklesschwert hängt die «Insel» hoch über Brienz. An den schnellsten Stellen bewegt sich das rund 2 Millionen Kubikmeter grosse, stark zerrüttete Felspaket mit bis zu 40 Zentimetern pro Tag talwärts. Täglich lösen sich daraus Blöcke und donnern den Hang hinunter, Steinschläge wurden allein dieses Jahr schon über tausend registriert.
Am Mittwochmorgen um 9.14 Uhr donnerten grössere Felsblöcke ins Tal:
Bis die gesamte Rutschmasse oder ein Teil davon abbricht, ist nur noch eine Frage der Zeit, es kann sich noch um ein paar Tage oder aber auch noch um wenige Wochen handeln. So genau lässt sich das trotz ausgeklügelten Computermodellen nicht sagen. Aber: «Je näher das Ereignis rückt, desto präziser lässt sich der Zeitpunkt bestimmen», sagt der Geologe Stefan Schneider vom Ingenieurbüro CSD, der den Frühwarndienst leitet.
Er betont aber auch: «Wenn es losgeht am Berg, dann blinken bei uns nicht automatisch rote Lampen und die Handyalarme springen an.» Vielmehr würden die Daten in Kleinstarbeit von Hand am Computer analysiert – momentan mehrmals am Tag - und bei Auffälligkeiten und statistischen Veränderungen im Team besprochen –, «ganz unaufgeregt im Büro oder über Videocalls», so Schneider. Wer sich nun eine Kommandozentrale wie etwa bei der US-Raumfahrtbehörde vorstelle, müsse er leider enttäuschen.
Für die Frühwarnung wird der gesamte Brienzer Hang bereits seit über zehn Jahren überwacht, inzwischen mit vierzig Messpunkten, auf der Insel selbst befinden sich deren drei. Mit diesem System lässt sich die Bewegung der Felsmasse minutiös und beinahe in Echtzeit nachzeichnen.
Die Überwachung zur Frühwarnung besteht aus vier Messsystemen:
Wie der Geologe Stefan Schneidet erklärt, sind die Redundanzen zwischen diesen vier Messsystemen zentral, also die gleichzeitige Messung der Geschwindigkeiten mit verschiedensten Instrumenten. Denn es könne immer sein, dass mal ein Gerät beschädigt werde, ausfalle oder uneindeutige Resultate liefere.
Die erfassten Daten speist das Frühwarnteam anschliessend in ein Computerprogramm ein, das den theoretischen Zeitpunkt des Abbruchs berechnen kann. «Das ist ein riesiger Rechenaufwand», so Schneider. Gut zwei Stunden brauche der Computer für die Prognose.
Die hierfür verwendete Methode hat sich gemäss dem Geologen in vielen anderen Fels- und Bergsturzereignissen bereits bewährt. «Blind dürfen wir dem Modell aber nicht vertrauen», sagt er. Es brauche immer auch den gesunden Menschenverstand zur Beurteilung. Derzeit gehen die Experten von einem Abbruchzeitpunkt aus, der in rund 3 bis 20 Tagen eintreten wird.
Nur: Der Regen erschwert die Vorhersage noch zusätzlich. Das liegt zum einen daran, dass man nicht genau weiss, wie die Insel auf Niederschläge reagiert. Zum anderen auch an ganz praktischen Gründen: «Wenn der Hang wolkenverhangen oder mit Nebel umhüllt ist, kann der Tachymeter seine Messungen nicht durchführen», sagt Schneider. Er und sein Team haben daher denselben Wunsch fürs Auffahrtswochenende wie wohl alle anderen auch, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen: «Schönes Wetter», so der Geologe, «ist definitiv besser für die Prognosen.»
Geologinnen und Geologen haben das künftige Schicksal der Brienzer Insel evaluiert. Demnach kann es mit einer Wahrscheinlichkeit von 60 Prozent mehrere Felsstürze aus Teilbereichen der Insel geben. Ein Schuttstrom wird mit 30-prozentiger Wahrscheinlichkeit eintreten. Dabei würden grössere Teile oder die ganze Insel in einen zäh fliessenden Strom übergehen. Solche Schuttströme besitzen grosse Zerstörungskraft. Die Wahrscheinlichkeit eines Bergsturzes liegt bei 10 Prozent. Dann würde die gesamte Insel, zerstörerisch wie eine grosse Lawine, zu Tale donnern. (sny)