Felssturz
Der Berg in Brienz wird kommen: So funktioniert das Frühwarnsystem

Vor einer Woche ist das Bündner Bergdorf Brienz wegen des drohenden Felssturzes geräumt worden. Die Geologinnen und Geologen des Frühwarndienstes lassen «die Insel» derweil nicht mehr aus den Augen.

Stephanie Schnydrig
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Ein Mann arbeitet an einem Messgerät in Brienz, das den Hang überwacht.

Ein Mann arbeitet an einem Messgerät in Brienz, das den Hang überwacht.

Bild: Gian Ehrenzeller / Keystone

Wie ein Damoklesschwert hängt die «Insel» hoch über Brienz. An den schnellsten Stellen bewegt sich das rund 2 Millionen Kubikmeter grosse, stark zerrüttete Felspaket mit bis zu 40 Zentimetern pro Tag talwärts. Täglich lösen sich daraus Blöcke und donnern den Hang hinunter, Steinschläge wurden allein dieses Jahr schon über tausend registriert.

Am Mittwochmorgen um 9.14 Uhr donnerten grössere Felsblöcke ins Tal:

In Brienz donnern erneut Felsen ins Tal.

Quelle: Blick TV / Gemeinde Albula/Alvra

Bis die gesamte Rutschmasse oder ein Teil davon abbricht, ist nur noch eine Frage der Zeit, es kann sich noch um ein paar Tage oder aber auch noch um wenige Wochen handeln. So genau lässt sich das trotz ausgeklügelten Computermodellen nicht sagen. Aber: «Je näher das Ereignis rückt, desto präziser lässt sich der Zeitpunkt bestimmen», sagt der Geologe Stefan Schneider vom Ingenieurbüro CSD, der den Frühwarndienst leitet.

Der Leiter Frühwarndienst beim Kanton Graubünden, Stefan Schneider, erklärte die Warntechnik an der Medienkonferenz in Chur.

Der Leiter Frühwarndienst beim Kanton Graubünden, Stefan Schneider, erklärte die Warntechnik an der Medienkonferenz in Chur.

Bild: Keystone

Er betont aber auch: «Wenn es losgeht am Berg, dann blinken bei uns nicht automatisch rote Lampen und die Handyalarme springen an.» Vielmehr würden die Daten in Kleinstarbeit von Hand am Computer analysiert – momentan mehrmals am Tag - und bei Auffälligkeiten und statistischen Veränderungen im Team besprochen –, «ganz unaufgeregt im Büro oder über Videocalls», so Schneider. Wer sich nun eine Kommandozentrale wie etwa bei der US-Raumfahrtbehörde vorstelle, müsse er leider enttäuschen.

Vierzig Messpunkte dienen der Frühwarnung

Für die Frühwarnung wird der gesamte Brienzer Hang bereits seit über zehn Jahren überwacht, inzwischen mit vierzig Messpunkten, auf der Insel selbst befinden sich deren drei. Mit diesem System lässt sich die Bewegung der Felsmasse minutiös und beinahe in Echtzeit nachzeichnen.

Die Überwachung zur Frühwarnung besteht aus vier Messsystemen:

  • Tachymeter: Im Dorf Brienz steht ein Tachymeter, der alle zwei Stunden vollautomatisch einen Laserstrahl zum Hang schiesst, der dann von den an der Felsmasse angebrachten Reflektoren reflektiert wird. Auf der Insel befinden sich deren drei. Mit der Lasermessung lässt sich die Distanz zwischen Tachymeter und den Felspunkten genau bestimmen und so die Geschwindigkeiten der Felsen berechnen.
  • Georadar: Ein interferometrisches Georadar tastet mithilfe elektromagnetischer Strahlung von der gegenüberliegenden Seite des Brienzer Hangs die ganze Rutschung ab. Mit diesem Gerät lassen sich Deformationen und Geschwindigkeitsänderungen genau ermitteln.
  • Fotogrammetrie: Alle paar Stunden schiessen zwei hochauflösende Kameras ein Bild des Hangs. Auf den Fotos werden bereits kleinste Felsausbrüche sichtbar. Indem die zu verschiedenen Zeitpunkten aufgenommenen Fotos miteinander verglichen werden, können Geschwindigkeitsveränderungen sichtbar gemacht werden.
  • Permanente GPS-Stationen: Auf der Rutschung befinden sich insgesamt 16 permanente GPS-Stationen, mit denen täglich die Koordinaten erfasst werden. Bewegungen im Hang lassen sich so detailliert aufzeichnen.
Die vier Mess-Systeme des Frühwarndienstes am Brienzer Hang. Nicht dargestellt sind das Doppelradar und die manuellen GPS-Messungen.

Die vier Mess-Systeme des Frühwarndienstes am Brienzer Hang. Nicht dargestellt sind das Doppelradar und die manuellen GPS-Messungen.

Bild: CSD Ingenieure AG

Wie der Geologe Stefan Schneidet erklärt, sind die Redundanzen zwischen diesen vier Messsystemen zentral, also die gleichzeitige Messung der Geschwindigkeiten mit verschiedensten Instrumenten. Denn es könne immer sein, dass mal ein Gerät beschädigt werde, ausfalle oder uneindeutige Resultate liefere.

Auch Geologen hoffen auf schönes Wetter

Die erfassten Daten speist das Frühwarnteam anschliessend in ein Computerprogramm ein, das den theoretischen Zeitpunkt des Abbruchs berechnen kann. «Das ist ein riesiger Rechenaufwand», so Schneider. Gut zwei Stunden brauche der Computer für die Prognose.

Die hierfür verwendete Methode hat sich gemäss dem Geologen in vielen anderen Fels- und Bergsturzereignissen bereits bewährt. «Blind dürfen wir dem Modell aber nicht vertrauen», sagt er. Es brauche immer auch den gesunden Menschenverstand zur Beurteilung. Derzeit gehen die Experten von einem Abbruchzeitpunkt aus, der in rund 3 bis 20 Tagen eintreten wird.

Nur: Der Regen erschwert die Vorhersage noch zusätzlich. Das liegt zum einen daran, dass man nicht genau weiss, wie die Insel auf Niederschläge reagiert. Zum anderen auch an ganz praktischen Gründen: «Wenn der Hang wolkenverhangen oder mit Nebel umhüllt ist, kann der Tachymeter seine Messungen nicht durchführen», sagt Schneider. Er und sein Team haben daher denselben Wunsch fürs Auffahrtswochenende wie wohl alle anderen auch, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen: «Schönes Wetter», so der Geologe, «ist definitiv besser für die Prognosen.»

Die Bedrohung ist akut: Über Brienz (mit Kirchturm) ragt der Berg. Die Schutthalde ist die Abbruchstelle, fast zwei Millionen Kubikmeter Gestein sind in Bewegung.

Die Bedrohung ist akut: Über Brienz (mit Kirchturm) ragt der Berg. Die Schutthalde ist die Abbruchstelle, fast zwei Millionen Kubikmeter Gestein sind in Bewegung.

Bild: Keystone

Drei Szenarien für Brienz

Geologinnen und Geologen haben das künftige Schicksal der Brienzer Insel evaluiert. Demnach kann es mit einer Wahrscheinlichkeit von 60 Prozent mehrere Felsstürze aus Teilbereichen der Insel geben. Ein Schuttstrom wird mit 30-prozentiger Wahrscheinlichkeit eintreten. Dabei würden grössere Teile oder die ganze Insel in einen zäh fliessenden Strom übergehen. Solche Schuttströme besitzen grosse Zerstörungskraft. Die Wahrscheinlichkeit eines Bergsturzes liegt bei 10 Prozent. Dann würde die gesamte Insel, zerstörerisch wie eine grosse Lawine, zu Tale donnern. (sny)