Social Media
Nachbarschaftshilfe statt Hasstiraden: In der Corona-Krise werden die bösen sozialen Medien plötzlich zu den Guten

Social Media sei seit Beginn der Corona-Pandemie «seriöser, effektiver und besser» geworden, findet der Soziologe Stephan Humer. Wie das Internet uns dabei hilft, Solidarität zu zeigen.

Frederic Härri
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Botendienst in schwierigen Zeiten: Ein freiwilliger Helfer liefert in Genua Essen aus.

Botendienst in schwierigen Zeiten: Ein freiwilliger Helfer liefert in Genua Essen aus.

Quelle: Luca Zennaro/EPA

«Gemeinsam gegen Corona!» Die Nachricht ist unmissverständlich - wir sagen dem Virus den Kampf an. Zu sehen ist die Message auf hilf-jetzt.ch, wo das Prinzip in einfachen Schritten erklärt wird. Menschen tun sich mit Menschen in der Nähe zusammen, organisieren sich, gründen Gruppen auf Facebook, Whatsapp und Telegram. Einkäufe erledigen, Kinder betreuen, Fahrten zur Apotheke oder ins Spital. Wer Unterstützung braucht, der kriegt sie - besonders diejenigen, die gegenüber dem Virus am anfälligsten sind: Menschen über 65 und Personen mit Vorerkrankungen.

«Hilf jetzt» ist keine Ausnahmeerscheinung. Die Website selbst ist inspiriert von den Facebook-Gruppen «Gärn gschee - Basel hilft» und «Gern gscheh - Tsüri hilft», den Vorbildern aus den Städten, die in der letzten Woche Schlagzeilen gemacht haben. Jeden Tag ploppen neue Hilfsangebote auf den sozialen Plattformen auf. Ausgerechnet die sozialen Medien, ist man geneigt zu sagen. Die ja sonst eher in Verruf geraten sind, weil sie im Verdacht stehen, Zwietracht zu sähen und einen Keil zwischen die Menschen zu treiben. Doch jetzt, in der Corona-Krise, sind sie auf einmal die Guten. Die Helfer in der Not.

Die Facebook-Seite von «Gärn gschee - Basel hilft».

Die Facebook-Seite von «Gärn gschee - Basel hilft».

Quelle: Screenshot/Facebook

Einer, der den Phänomenen der digitalen Welt etwas genauer als andere auf den Grund geht, ist Stephan Humer. Der Deutsche ist Internetsoziologe und lehrt an der Hochschule Fresenius in Berlin. Internet und die Gesellschaft, das ist sein Fachgebiet. Laut Humer hätten die vielen Hilfsangebote der letzten Tage ihre Wirkung nicht verfehlt: «Im nachbarschaftlichen Rahmen entsteht viel Gutes», findet er. Besonders in den Grossstädten, in denen man seine Nachbarn oft nicht persönlich kenne, könne via Internet bestens geholfen werden. «Unsere digitale Vernetzung», sagt Humer, «ist dafür ein Segen.»

Die digitale Welt ist sein Fachgebiet: Internetsoziologe Stephan Humer.

Die digitale Welt ist sein Fachgebiet: Internetsoziologe Stephan Humer.

Quelle: Mario Heller

Wenn der Wissenschafter zurzeit Twitter & Co. durchforstet, fällt ihm auf: Corona dominiert, mit riesigem Vorsprung. «Nicht-Corona-bezogene Themen gehen unter.» In der Flut an Meldungen, Posts und Kommentaren seien aber tatsächlich viele gute Informationen, solidarische Angebote, Aufrufe und Mutmacher zu finden, sagt Humer. Angetan haben es dem Soziologen auch Gags und Witze über das Virus, die er auf seinem eigenen Twitter-Kanal selber fleissig retweetet und teilt: «Die sind völlig in Ordnung», sagt Humer. Auch Humor könne schliesslich helfen, die momentane Situation zu bewältigen.

Zweifelhaftes auf dem Social-Media-Karussell:
Weder heisse Bäder noch Zwiebeln helfen

Zur Wahrheit gehört aber auch: Das Internet, in dem sich das Karussell der Meinungen und Nachrichten dieser Tage noch viel schneller als ohnehin schon dreht, bringt nicht nur Positives hervor. Falschmeldungen kursieren, zweifelhafte Videos gelangen ins Netz und nehmen eine Dynamik auf, die nur schwer zu bändigen ist. Auf Whatsapp machte hierzulande etwa die Aufforderung die Runde, schnellstmöglich einzukaufen, was man brauche, da man «morgen nichts mehr bekommt». Zuhauf weiterverbreitet werden auch fragwürdige Tipps, wie man dem Virus am besten beikomme. Doch weder Zwiebeln im Wohnzimmer noch heisse Bäder können verhindern, dass sich jemand mit SARS-CoV-2 infiziert.

Jetzt ist die Zeit, Digitalkompetenzen auszubauen. Wir brauchen die Digitalisierung mehr denn je.

Humer fordert mehr Warnungen gegen Fake News in den sozialen Medien, er nimmt aber auch jeden einzelnen in die Pflicht, die Sinne zu schärfen: «Jetzt ist die Zeit, Digitalkompetenzen auszubauen, denn wir brauchen die Digitalisierung mehr denn je.» Doch es sind nicht nur die nachweislich falschen Meldungen, die die Stresshormone in die Blutbahnen der Menschen schiessen lassen. Machen Hashtags wie «coronapocalypse» oder die vielen Bilder leerer Supermarktregale uns nicht ängstlicher? Nein, findet Humer. «Nach meinem bisherigen Eindruck läuft alles erfreulich positiv ab, die negative Seite nimmt nicht überhand.» Allgemein halte er Social Media seit Corona für «seriöser, effektiver, und besser».

Humer ist gespannt, wie lange dieser Trend auch nach der Krise Bestand haben wird. In einem sieht sich der Soziologe jetzt schon bestätigt: Wenn die Leute nur wollen, helfen sie, wo sie können. «Plötzlich sieht man diese Ernsthaftigkeit und Hilfsbereitschaft überall.» Das Internet, so scheint es, bringt die Menschen gerade wieder näher zusammen.