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Rund 900 Schwarznasenschafe verbringen den Sommer im Walliser Gebiet der «Inneren Aletschji». Der Aufstieg dorthin ist voller Tücken: Steinschläge drohen und der Weg ist eng und felsig. Unser Autor hat eine Herde begleitet.
Die ersten 800 Höhenmeter werden den Schwarznasenschafen auf dem langen und beschwerlichen Weg zu ihrer Walliser Sommeralp «Innere Aletschji» geschenkt. Es ist ein Freitag, Mitte Juni. In drei Viehanhängern werden 120 Tiere den kurvenreichen Alpweg von Blatten bei Naters hochgefahren.
Für Ziegenzüchter Silvio Salzmann ist es selbstverständlich, seinen drei Kollegen, die heute mit ihren Schafen die Alp bestossen, beim Transport mitzuhelfen. Ende August wird er dann mit einem freiwilligen Männerteam die Schafe im weitläufigen und steilen Alpgelände einsammeln und zurück zur Belalp geleiten. Dass man dabei Kopf und Kragen riskiert, ist ihm bewusst.
Vor ein paar Jahren hätte ihn beinahe ein mächtiger Felsbrocken getroffen, der knapp vor ihm über den Weg zu Tale gedonnert war. «Die Arbeit mit den Tieren, die Kollegschaft, die ein grosses Vertrauen und Zuverlässigkeit voraussetzt, und die jahrhundertealte Tradition haben mich bewogen, bei der Schafsömmerung im Aletschji mitzuhelfen», sagt Silvio Salzmann. Das älteste Dokument, das die Nutzung der Alpweiden im «Inneren Aletschji» belegt, stammt aus dem Jahr 1404. Damals verkaufte ein Natischer das Alprecht für sechs Kühe.
Kurz vor dem Hotel Belalp endet die halbstündige Fahrt. Kaum geöffnet, verlassen die Schafe schnellstmöglich die Viehanhänger. Blökend. Ihre Wolle ist vom morgendlichen Regen noch nass und somit das Körpergewicht eines zweijährigen Tiers von 70 bis 80 Kilogramm um bis zu acht Kilogramm schwerer. Auf ihren Rücken prangen zur Kennzeichnung farbige, handgrosse Punkte. Einige Tiere haben eingebrannte Initialen ihrer Besitzer in den geschwungenen Hörnern.
Erste Sonnenstrahlen streifen die Eismassen des Aletschgletschers. Nebelschwaden ziehen den Bergflanken nach und mit einem ersten Peitschenhieb, der auch unterwegs nie ein Tier berührt, setzt sich die Herde in Bewegung. Bis Mitte Juli werden rund 900 Schafe im «Inneren Aletschji» sein – von 35 Züchtern aus Naters und Umgebung. Die Böcke verbringen den Sommer im Tal, sonst würde so manches Zuchtprogramm im weitläufigen Gelände ausser Kraft gesetzt.
«Hei, hei, hu, hu» tönt es unentwegt. Angelockt von feinen Kräutern bleiben die Tiere stehen und langen zu, bis sich der Weg verengt und die Steigung immer mehr Kraft erfordert. Der 33-jährige André Summermatter treibt die Herde am Schluss an.
Der studierte Bauer – so nennen die Einheimischen den Agraringenieur. «Mit der Schafalpsömmerung können wir unsere Kulturlandschaft pflegen und erhalten. Neben der Weiterführung der Tradition gilt es, eine zeitgemässe
Deshalb hat der Burgerrat Naters beschlossen, dieses Jahr zum ersten Mal einen Schafhirten anzustellen. Durch Kontakte fanden wir einen erfahrenen Mann aus dem Unterwallis.» Dutzende von Personen meldeten sich auf die Ausschreibung. Die meistens hatten kein Fachwissen und liessen sich vom «Heidi-Peter-Syndrom» leiten. Die Realität, weit weg von der Zivilisation, in einer Höhe zwischen 2000 und 3000 Metern, sieht bei schlechtem Wetter über mehrere Tage aber ganz anders aus.
Der beschwerliche Weg auf die Alp in der Bildergalerie:
Die Schafe überqueren nun einen kleinen Lawinenkegel, trinken im nahen Bach und steigen einem langen Tatzelwurm ähnlich den Wanderweg auf den Felsenrücken hoch. Ganz hinten reihen sich viermonatige Lämmer mit ihren Müttern ein. Das eine Tier hinkt, schwankt und mag nicht mehr. Sofort eilt der Hirt zu ihm, flüstert ihm ins Ohr, trägt es eine kleine Wegstrecke, lässt es wieder laufen und entscheidet sich dann, es mit dem Muttertier hier ruhen zu lassen. Denn weiter oben weiden andere Schafe, die am nächsten Tag begleitet den gleichen Weg unter die Füsse nehmen werden.
Die Schwarznasen sind geduldig, genügsam und hart im Nehmen. Das zeigt sich auch auf dem Weg in die eindrückliche Oberaletschschlucht. Weit unten tost der vom Gletschersand graubraun verfärbte Wildbach. Unentwegt drängen sich die weissen Tiere mit den schwarz gestiefelten Beinen über den mit Felsblöcken geschichteten Weg abwärts. Hie und da folgt ein Schritt ins Leere, doch drei Beine halten ja noch.
Zuvorderst führt Romeo Eggel – Burgersäckelmeister und somit einer der beiden gewählten Verantwortlichen der Burgergemeinde Naters für die Schaf-Alpsömmerung im Aletschji – mit Lockrufen und einer Trychle die ersten Schafe über die leicht schwankende Hängebrücke und öffnet kurz vor deren Ende die mannshohe Gittertüre. Die wolfsfreie Insel im Eis und Fels ist erreicht. Steil geht es weiter. Wasser tropft von den zum Teil überhängenden Felsen. Ein Zaun verhindert Stürze in die senkrecht abfallende Schlucht. Die Tiere meistern mit kurzen Verschnaufpausen den Felsenweg, der mit seiner eindrücklichen Kulisse schon manches Kalenderbild geziert hat.
Schon über vier Stunden sind Tier und Mensch unterwegs. Tief unten das Band des Aletschgletschers, dem kaum die Aufmerksamkeit gilt. Denn von oben drohen Steinschläge, die der abnehmende Permafrost und Steinböcke verursachen. Und als wenn er auf die Gefahren aufmerksam machen müsste, fliegt ein Bartgeier in der Ferne vorbei.
Leben und Tod sind hier in der rauen Gebirgswelt nahe beieinander. So viele Schafe wie möglich nach der Sömmerung gesund wieder auf die Belalp zu bringen, ist das Ziel. Im Schnitt sind es weniger als ein Prozent der Tiere, die hier ihr Leben verlieren. Doch dieses Jahr hat der Steinschlag schon vier Schafe im «Üsseren Aletschji» getötet.
Für den 47-jährgen Walliser Hirten Fabrice Gex ist dies das Schlimmste, was passieren kann. Als ausgebildete Käser arbeitet er seit zwölf Jahren als Hirte für Rinder und Schafe. «Ich liebe es, mit den Schafen allein in der urwüchsigen Natur zu sein. Mein grösster Lohn ist die Verbundenheit mit den Tieren», sagt er.
Es ist ein schöner Blick, die Driesthütte nach fast fünfstündigem Alpauftrieb vor Augen zu haben. Seit 1827 steht sie auf einer ausgedehnten Weideterrasse. Fast ist das Tagesziel erreicht. Ein erneutes Trycheln, ein Leitschaf wird von einem der kräftigen Männer an einem der Hörner gepackt und über den Drietschbach gezogen.
Noch eine Stunde, dann ist mit der Überwindung des nächsten markanten Moränenwalls die Geländekammer «Zen Bächu», das Ziel im mittleren Teil der weiträumigen Alp, erreicht. Die Schafe weiden, ruhen sich aus und die vier Männer wenden sich erlöst von der Anspannung der Driesthütte zu.
Ende August kehren die Schafe in die Zivilisation zurück. Ihre Ankunft wird am letzten Augustwochenende mit dem Volksfest «Schäful» gefeiert.
Das Schäferwochenende «Schäful» findet am 29. und 30. August 2020 auf der Belalp statt. Mehr Infos unter belalp.ch