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Leben
Skandal hier, Skandal da: Politik, Wirtschaft und grosse Organisationen haben keinen guten Ruf. Immer neue Enthüllungen erschüttern unser Vertrauen. Der Philosoph Martin Hartmann erklärt, warum man trotz Vertrauenskrisen nicht verzweifeln muss.
Ein Blick in die Schlagzeilen. Wissenschafter kritisieren den Bundesrat wegen seiner Lockerungspolitik. Verspielt die Regierung das in der Coronakrise gewonnene Vertrauen? Immer neue Enthüllungen erschüttern nach dem Abgang ihres Präsidenten Gottfried Locher die Glaubwürdigkeit der Evangelisch-reformierten Kirche der Schweiz.
Die Firma Wirecard ist pleite, nachdem sich herausgestellt hat, dass in der Bilanz 1,9 Milliarden Euro fehlen. In Bern harrt Bundesanwalt Michael Lauber im Amt aus, obwohl er längst kein Vertrauen mehr geniesst.
Vier Ereignisse, die wenig miteinander zu tun haben und dennoch vom selben handeln: von Vertrauen. Genauer: von der Erosion des Vertrauens. Umfragen wie jene des einflussreichen Edelmann Trust Barometer in 28 Ländern stützen den Eindruck: Ob Unternehmen, Regierungen, Nichtregierungsorganisationen oder die Medien – fast überall leiden Institutionen unter einem Vertrauensschwund.
Müssen wir uns also Sorgen machen, und eine Welt des Misstrauens befürchten, in der jeder des andern Feind ist? Weil Vertrauen eben doch eine «heimliche Macht» ist, wie der an der Universität Luzern lehrende Philosoph Martin Hartmann in einem kürzlich erschienenen aufschlussreichen Streifzug durch die Vertrauenskrisen unserer Zeit erklärt? Das wäre ihm zu undifferenziert, erklärt er im Gespräch. Er sagt:
Vertrauen ist mehr als eine Meinung, die man in einer Umfrage äussert. Denn was man dem Befrager kundtut, und wie man im realen Leben handelt, das sind oft zwei verschiedene Paar Schuhe.
Zurücklehnen können wir uns nach seiner Ansicht dennoch nicht. «Vertrauen erodiert, weil viele Zusammenhänge so komplex und undurchsichtig geworden sind, dass wir uns in manchen Entscheidungen – etwa der Politik – immer schwerer wiederfinden. Populismus ist auch eine Reaktion auf fehlendes Vertrauen.»
Was Martin Hartmann mit der Komplexität unserer Welt meint, erläutert er an unseren Bankbeziehungen. Wir kennen zwar vielleicht unseren Bankberater und setzen Vertrauen in ihn. Aber wir wissen nicht, was sich hinter ihm abspielt. Ob sich da eine neue Finanzkrise anbahnt, wie 2008, als Schrottpapiere derart virtuos «verpackt» wurden, dass selbst Banker nicht mehr wussten, womit sie da handelten?
Das Bankgeschäft ist zu komplex geworden, und auch auf die vielen vertrauensbildenden Massnahmen von Unternehmen zwecks Kundenberuhigung und -bindung sollte man sich nichts einbilden.
Ikea duzt mich. Aber nicht, weil es mein Freund ist. Es duzt mich, weil er eine freundschaftlich-egalitäre Atmosphäre schaffen möchte, die mich vergessen lassen soll, dass ich mein Geld für zumeist schlechte und billig produzierte Ware ausgebe.
Die Bank brauche ich, Ikea vielleicht nicht – dafür die Dienste anderer Unternehmen, die vollmundig um mein Vertrauen werben. Doch Vertrauen muss nicht blind sein. Wir kennen das aus Freundschaften und Liebesbeziehungen, sofern sie nicht gerade auf Illusionen aufgebaut sind: Vertrauen und Misstrauen schliessen einander keineswegs aus.
Misstrauen tariert jene Verletzbarkeit aus, die wir zulassen, indem wir vertrauen. «Vertrauen wie Misstrauen sind engagierte Haltungen», sagt Martin Hartmann sagt mit Blick auf die Politik: «Tödlicher für die Politik wäre die Gleichgültigkeit.»
Denn Politik braucht uns, die Demokratie lebt vom Vertrauen. Hier allerdings stellt Hartmann eine kritische Frage auch an uns selbst: Ob wir, verblendet auch das Internet und seine fast täglich aufpoppenden Skandalmeldungen und Shitstorms, überhaupt noch vertrauen wollen. «Wir vertrauen dem Vertrauen nicht.» Darin könnte die eigentliche Krise des Vertrauens bestehen, «nicht in der zunehmenden Verruchtheit der Menschen und der Politik».
So liegt die Schwierigkeit nach Ansicht von Martin Hartmann «weniger in einer fehlenden Vertrauenswürdigkeit als darin, Vertrauenswürdigkeit zu erkennen». Ausnahmen gibt es zwar. In Deutschland etwa steht das Bundesverfassungsgericht an der Spitze der Vertrauenspyramide, in der Schweiz ist es die Feuerwehr.
Auch das Rote Kreuz, und jetzt, in der Coronakrise, das Gesundheitswesen dürften weit grösseres Vertrauen geniessen als die Politik, die Parteien oder die Politiker im Einzelnen.
Da können wir dann sehr rasch den Stab brechen. Die Personalisierung auch von Politik zeitigt zweifellos dunkle Nebenfolgen. Martin Hartmann sagt:
Irgendwelche Schwächen werden immer auftauchen.
Transparenz, das Zauberwort unserer Zeit, macht nicht immer Sinn. Sie baut zwar Informationsungleichgewichte ab, fördert aber auch eine Haltung fundamentalen Misstrauens.
Ist dieses Misstrauen eigentlich nicht sehr verständlich? Für manche Gruppen in der ganzen Gesellschaft durchaus, sagt Martin Hartmann. «Weil sie zu den Verlierern der Politik gehören.»
Doch wir Durchschnittsbürger haben wenig Grund, die Politik mit Misstrauen zu betrachten. Sie rettet zwar nicht unser Leben wie die Feuerwehr. Aber sie sucht in Konflikt und Kompromiss nach einer Lösung unserer gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Probleme. Wie gerade die Schweiz zeigt (siehe Box), mit einigem Erfolg.
Er würde sich «in Deutschland mehr Schweiz wünschen», sagt Martin Hartmann, der aus Hamburg kommt und an der Universität Luzern Philosophie lehrt.
Allerdings weiss er, dass das nicht geht. Deutschland baut auf anderen historischen Erfahrungen auf als die Schweiz mit ihrem «insgesamt ruhigeren politischen Regime», mit direktdemokratischen Instrumenten, mit Bürgerinnen und Bürgern, die sich intensiver mit politischen Fragen beschäftigen als die Bewohner anderer Staaten, und mit einer Regierung, in die fast alle relevanten Kräfte Einsitz nehmen. Der Kompromiss ist hier Programm.
Das stärkt Vertrauen. Lukas Golder, Co-Leiter des Forschungsinstituts gfs in Bern, bestätigt es. Nicht einmal die stärkere politische Polarisierung kann dem positiven Trend viel anhaben. Wobei das Vertrauen in die Regierung – unabhängig vom eigenen Parteistandpunkt – gemäss «European Social Survey» seit 2002 deutlich zugenommen hat, während das Vertrauen in Parlament und Politiker doch immerhin konstant geblieben ist. «Wir haben bessere Voraussetzungen als vergleichbare Staaten», erklärt Golder.
«Die direkte Demokratie kann als Ventil wirken, auch ist unser föderal aufgebautes System sehr bürgernah. Hinzu kommt die hohe politisch-wirtschaftliche Stabilität.» Gerade in Krisen zeige sich die Schweiz «überraschend resistent» – wie jetzt. «Die Menschen fühlen sich mitgenommen.»
Entscheidend für das stabile Vertrauen sei auch, dass sich nicht der rechte oder linke Rand «komplett absondern». Allerdings bremst gerade die Stärke dieser Polparteien SP und SVP die Lösung der grossen Probleme.
«Die mangelnde Lösungsfähigkeit bei den wirklich wichtigen Themen geht den Leuten auf den Wecker. Das sieht man etwa im CS-Sorgenbarometer.» Und noch etwas merkt Golder kritisch an: Gerade die erfolgreiche Bewältigung von Krisen hat da und dort den Glauben genährt, dass die Schweiz auf andere nicht angewiesen sei. (R.A.)