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Leben
Kolumbus nutzte sie, arabische Rebellen und antike Heere fürchteten sie: Mondfinsternisse waren nie rein astronomische Ereignisse, sondern immer auch Anlass für viel Fantastereien. Sie sind es bis heute geblieben.
Als ob die Zeiten auf Erden dieser Tage nicht schon düster genug wären, verabschiedet sich am Freitagabend auch der Mond in die Finsternis. Für volle 103 Minuten steht der Erdtrabant im Schatten unseres Planeten und schimmert blutrot vom Himmel. Die längste totale Mondfinsternis dieses Jahrhunderts wird dank dem voraussichtlich wolkenfreien Himmel auch bei uns zu sehen sein.
Sterngucker fiebern dem astronomischen Höhepunkt entgegen, Sternwarten öffnen ihre Pforten für Sonderführungen und Mondsüchtige wie die Bretzwiler Hellseherin Sabrina Wunderli laden ein zu Zeremonien im Freien. Wunderli, die eine Zusammenkunft beim Grillplatz Eichhöhe in ihrer Heimatgemeinde organisiert, will zu Ehren des Vollmondes gemeinsam mit Gleichgesinnten Trommeln und Räucherrituale durchführen. «Wir feiern den Vollmond als Unterstützung in unserem Leben», erzählt sie. Ziel der abendlichen Zeremonie sei es, destruktive Energien loszulassen und das eigene Leben mit positiver Energie zu füllen.
Die esoterische Szene vibriert ob des Megaevents am Abendhimmel. Der Mond muss als Projektionsfläche für alle möglichen Ängste und Hoffnungen hinhalten. Auch die «mediale Beraterin» Marisa Schmid aus Basel wird den Freitagabend in der Natur verbringen. Sie will alles, das sie derzeit belastet, symbolisch auf ein Stück Holz schreiben und in einem Feuer bei aufgehendem Vollmond verbrennen. «Aus meiner Sicht ist diese Mondfinsternis ein wunderbarer Moment, um sein eigenes Leben anzuschauen, zu überprüfen, was noch stimmig ist und was im Leben zu Ballast geworden ist», sagt Schmid, die in Basel Aura-Readings anbietet und Jenseitskontakte herstellt. Die Mondfinsternis deute an, dass viele Dinge zum Abschluss kämen: Beziehungen, Freundschaften, ungeliebte Jobs. «Man kann das Ereignis als Chance sehen, nötige Veränderungen anzustossen, oder es ungenutzt verstreichen lassen.»
Seit Menschengedenken richten die Erdbewohner ihren sinnsuchenden Blick auf den Erdtrabanten, besonders bei Ereignissen wie der anstehenden Finsternis. Bis vor 100 Jahren taten das weite Teile der Weltgemeinschaft mit Sorge. Davon zeugt etwa ein Tagebucheintrag des britischen Archäologen Thomas Edward Lawrence (besser bekannt als «Lawrence von Arabien»). Am 4. Juli 1917 verdunkelte sich der Mond über dem Orient und verwirrte die Gemüter der gegen die Osmanen kämpfenden Araber. Lawrence beobachtete die Szene hautnah und notierte: «Die abergläubischen Soldaten feuerten mit ihren Gewehren wild in den Himmel, um den bedrohten Himmelskörper zu befreien.» Unnötig verschwendete Patronen? Nicht in den Augen der arabischen Kämpfer, die ausgelassen feierten, als der Mond nach rund anderthalb Stunden wieder aus dem Schatten der Erde (oder in ihren Augen eben aus dem Schlund eines Himmelsmonstrums) trat.
228 Mondfinsternisse wird es laut der US-Raumfahrtbehörde Nasa im 21. Jahrhundert insgesamt geben. 86 davon sind totale Finsternisse, wie jene von morgen Freitag.
Mondfinsternisse traten in der Menschheitsgeschichte oft während prägender Ereignisse auf. Das zeigt ein Blick in die Online-Datenbank der US-Raumfahrtbehörde Nasa. Nachgewiesen ist eine Mondfinsternis etwa für jene Tage Ende Mai 1453, als die Osmanen unter Sultan Mehmed II. Konstantinopel einnahmen und dem Byzantinischen Reich den Todesstoss versetzten. Der Mond verdunkelte sich auch in den letzten Lebensstunden des römischen Herrschers Herodes, der im Jahre 4 vor Christus in Jericho starb. Und selbst am 3. April 33, dem wahrscheinlichen Todestag von Jesus Christus, hat sich der Mond über Jerusalem laut den Daten der Nasa im Schatten der Erde versteckt.
Purer Zufall? Wahrscheinlich. Doch der menschliche Wille, im Mond mehr zu sehen als einen von der Sonne erhellten Steinbrocken, der war schon immer stark – und ist es bis heute. Das machte sich einst auch der italienische Seefahrer Christoph Kolumbus zu Nutzen, als er im Sommer 1503 auf seiner letzten Karibik-Reise an den Gestaden Jamaikas anlegte. Im Gepäck hatte er das «Calendarium», ein Standardwerk des deutschen Astronomen Johannes «Regiomontanus» Müller, das alle Finsternisse für den Zeitraum von 1475 bis 1531 vorhersagte. Kolumbus wusste also von der bevorstehenden Finsternis am 29. Februar 1504 und machte sich dieses Wissen zu Nutzen, um die Ureinwohner der Karibik-Insel einzuschüchtern. Diese weigerten sich nämlich mit zunehmender Dauer von Kolumbus’ Aufenthalt, ihn und seine Truppe mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Kolumbus drohte ihnen kurz vor der Mondfinsternis den Zorn seines Christengottes an, wenn sie nicht sofort zu ihrer alten Gastfreundschaft zurückfinden würden. Wenig später verdunkelte sich der Mond und die in astronomischer Vorhersage ungeübten Jamaikaner erfüllten Kolumbus aus Angst vor weiteren Zornattacken der Götter alle Wünsche.
Vor der Mondfinsternis von morgen Freitag brauchen sich die Jamaikaner nicht zu fürchten. Ausgerechnet in Nord- und Zentralamerika ist das Ereignis nämlich nicht zu sehen. In der Schweiz ist der blutrote Spuk um 23.13 Uhr vorbei. Erst am 9. Juni 2123 wird wieder eine ähnlich lange totale Mondfinsternis zu bewundern sein.