In der «Jung & Alt»-Kolumne schreibt unsere Autorin Samantha Zaugg, 26, alternierend mit Ludwig Hasler, Philosoph und Publizist, 76. Diese Woche erklärt Hasler, warum er gerne auch Autoren liest, deren Meinung er nicht teilt.
Liebe Samantha
Eine Freundin wirft ein: Wie könnt ihr über Fleisch und Sex und Alter sprechen – wo das Impfen grad die Gesellschaft entzweit, Wut und Empörung anheizt? Meine Antwort: Es könnte zusammenhängen.
Kurz zu deiner Frage: Ich, Generation Woodstock? Also ich sicher nicht. Der Exzess, den ich «metaphysisch» nannte, war total körperlich, aber persönlich, intim, kein Rudel-Delirium. Damit experimentierten Vereinzelte, meist herrschte mehr brave Schlager- als wilde Popkultur. Flower Power? LSD-Trip? Timothy Learys «Sex, Drogen, kosmisches Bewusstsein»? Zog Künstler an, wurde nie Breitensport. Nein, weit her war es nicht mit der sexuellen Befreiung. Und heute?
Zurück zum Zwischenruf. Impfdrama – mit anschwellendem Eifern und Geifern, der Gereiztheit hin und her. Frage: Rastet so aus, wer sinnlich zufrieden ist? Allein am Impfen kann das unmöglich liegen. Das nähmen wir gelassener, wären wir nicht sowieso schon durchgestresst. Wovon bloss? Es geht uns doch fabelhaft. So gut und reich und sicher lebten Menschen nie. Warum macht es uns dann nicht richtig froh? Wären wir vergnügt unterwegs, lachten wir einfach los, wo wir andere daneben finden. Woher diese belämmerte aggressive Humorlosigkeit? Fühlen wir uns gegenseitig bedroht?
Wir führen ja hier ein mustergültig zivilisiertes Gespräch. Jedenfalls bis ich Michel Houellebecq ins Spiel brachte. Mit ihm musstest du subito «aufräumen». Weg mit der «alten Skandalnudel»! Passt nicht in deine Welt. Tummelt sich an Rändern: Frauenhass, Islamisierung, Sexismus – ohne sich «klar zu positionieren». Klar = «richtig»? Mich interessieren Positionen bei Politikerinnen, bei Schriftstellern kaum. Für Thesen brauche ich keine Literatur. Von ihr erwarte ich Einblick in das, was die Positionierungsrhetorik übertönt: die ewig rätselhaft verschlungene Realität der Menschenexistenz. Davon finde ich bei Houellebecq nicht zu knapp.
Dass er dir nicht passt – kein Problem, auch mich nervt er zwischendurch. Doch darum gleich abservieren? Ich glaube, es geht dir wie mir: Mein Kopf lebt wie mein Immunsystem – von Auseinandersetzungen mit meinen Gegnern. Körperliche Abwehr trainiert ihre Kraft an den Viren und Bakterien, die sie angreifen. Bleiben die Attacken aus, erlahmt sie. Das könnte dahinter stecken, wenn Viren momentan leichtes Spiel haben: Unser Immunsystem kommt aus der Quarantäne, schlapp. Kann unserem gesellschaftlichen Nervensystem genauso passieren.
«Was Feinde nützen können» lautet ein Traktat des alten Plutarch. Darin nennt er den Feind einen «Lehrer, der uns unentgeltlich zur Verfügung steht», weil er zur Schlauheit zwingt, nie schmeichelt – mich im besten Fall zum Lachen bringt, über mich selber.
Ludwig