Myhre-Syndrom
Iolanis Odyssee: 14 Jahre bis zur Diagnose der seltenen Erbkrankheit

Endlose 14 Jahre hat es gedauert, bis klar war, an welcher Krankheit Iolani Blouin leidet. Als einziges Kind in der Schweiz ist sie am seltenen Myhre-Syndrom erkrankt. Das Protokoll einer Erbkrankheit, die Gesellschaft und Gesundheitssystem überfordert.

Markus Kocher
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Iolani (14) und ihre Mutter Madeleine Blouin geniessen die gemeinsame Zeit, die sie haben. Markus Kocher

Iolani (14) und ihre Mutter Madeleine Blouin geniessen die gemeinsame Zeit, die sie haben. Markus Kocher

Es war Madeleine Blouin schnell klar, dass mit Iolani etwas nicht stimmt. «Direkt nach ihrer Geburt nahm sie unverhältnismässig ab», berichtet die heute 52-jährige alleinerziehende Mutter. «In den ersten drei Monaten konnte Iolani fast nichts trinken. Und wenn sie trank, dann schwitzte sie sehr stark und schlief dabei immer wieder erschöpft ein. So richtig durchschlafen konnte sie nie.»

Wir sitzen in Binningen im Wohnzimmer von Iolanis Grosseltern, wo Madeleine Blouin und ihre Tochter seit Anfang 2013 wohnen. Iolani schreibt ein Diktat, ihre Mutter brütet über einem dicken Stapel Akten. Auf dem Sideboard steht ein grosses Lebkuchen-Hexenhäuschen, das Iolani mit ihrer Freundin Kiana am Tag zuvor gebacken hat. Eine Szene, wie sie in jedem Familienhaushalt vorkommen könnte.

Der Eindruck täuscht. Madeleine Blouin erzählt: «Letzte Nacht haben wir im Schlaflabor des Universitäts- und Kinderspitals beider Basel verbracht, wo Iolani aufgrund ihrer Lungenprobleme von Kopf bis Fuss verkabelt und untersucht worden ist.» Gegen 7 Uhr seien sie nach Hause zurückgekommen, Iolani habe dann bis 11.30 Uhr geschlafen, anschliessend geduscht, etwas Kleines gegessen und beim Vorbereiten des Mittagessens geholfen.

OPs am offenen Herzen

Im Alter von drei Monaten wurden bei Iolani die ersten nicht ordnungsgemässen Herzgeräusche festgestellt, erinnert sich Madeleine Blouin. Mit 12 Monaten verschlossen die Ärzte die Gefässverbindung zwischen Aorta und Lungenarterie, die sich nach der Geburt nicht automatisch geschlossen hatte. Drei Monate später erfolgte die erste Ballon-Herzdilatation und zwei Jahre nach der Geburt fand in Strassburg die erste Operation am offenen Herzen statt. «Es folgten weitere Operationen am offenen Herzen, eine davon mit schweren Komplikationen und dreiminütigem Herzstillstand, der zu einem temporären Sehverlust sowie zu Bewegungs- und Sprachstörungen geführt hat», erinnert sich Madeleine Blouin.

Seltene krankheiten – Das Myrhe-Syndrom

Das Myrhe-Syndrom ist eine Erbkrankheit, die erst 2011 genetisch erkannt worden ist. Die wichtigsten Symptome sind: schwere Herzfehler, Atmungs- und Lungenprobleme, Kleinwuchs, Hörverlust, starke Gelenkprobleme, Lernbehinderungen u.v.m. Beim Myhre-Syndrom führt ein mutiertes Protein dazu, dass sich durch Eingriffe fibröses Gewebe bildet, was dazu führt, dass Organe und Gelenke langsam und kontinuierlich versteifen und ihre Funktionalität verlieren.

Trotz den vielfältigen gesundheitlichen Problemen wurde Iolani mit sechs Jahren in die normale Grundschule mit heilpädagogischer Begleitung eingeschult. Zu dieser Zeit sei ihr das Verhalten ihrer Tochter immer mehr aufgefallen, sagt Madeleine Blouin. Zu Hause, im gewohnten Umfeld, habe sich Iolani ziemlich normal benommen und viel gesprochen; aber im Kontakt mit anderen Menschen habe sie sich extrem schüchtern, ja abweisend verhalten.

Zudem wurden in dieser Zeit die enormen, seit Geburt bestehenden Essprobleme immer heftiger. «Meine Tochter konnte nach wie vor keine feste Nahrung zu sich nehmen. Sie hatte grosse Mühe beim Schlucken und erstickte manchmal fast beim Essen. Der Bauch war stark gebläht, sie hatte starke Bauchschmerzen und musste häufig erbrechen.» Eine erst nach Jahren entdeckte Magen-Darm-Lageanomalie brachte zwei grosse Operationen mit sich. In der gleichen Zeit habe man auch festgestellt, dass Iolani sehr langsam wachse und die grossen Gelenke wie Knie, Fuss, Handgelenk sowie der Nacken immer mehr versteifen.

Madeleine Blouin: «2015 stellte man zudem mittels endokrinologischer Abklärung fest, dass Iolani kleinwüchsig bleibt.» Sie misst jetzt mit 14 1/2 Jahren knapp 130 Zentimeter und wird wohl höchstens 137 Zentimeter gross werden. Trotzdem hat die IV den Antrag auf Invalidität in Bezug auf Kleinwüchsigkeit abgelehnt.

Es war der Augenblick, als Madeleine Blouin den Glauben an unser Gesundheitssystem verloren hat. «Nachdem ich Iolani praktisch elf Jahre lang alleine respektive mithilfe meiner Eltern versorgt hatte und lange als hysterische Mutter verschrien war, musste ich konstatieren, dass unsere Gesellschaft und unser Gesundheitswesen für Fälle wie Iolani nicht vorbereitet sind.»

Einzig bekannter Fall der Schweiz

2016 folgten erste genetische Abklärungen am Universitätsspital Basel. «Doch trotz langwierigen Abklärungen erhielten wir Anfang 2017 die Diagnose, dass man bei Iolani keine genetischen Anomalien in Bezug auf die getesteten Genbereiche gefunden habe», berichtet Madeleine Blouin.

Der grosse Durchbruch erfolgte erst im Juni des letzten Jahres. Über die Stiftung für Menschen mit seltenen Krankheiten in Schlieren, einem Genetikzentrum, hat man innert weniger Monate herausgefunden, dass Iolani als einziges Kind in der Schweiz am Myhre-Syndrom leidet, von dem weltweit erst 56 Fälle medizinisch diagnostiziert sind. «Die Diagnose hat mir den Boden unter den Füssen weggezogen», sagt Blouin. Doch gleichzeitig sei sie eine Erleichterung gewesen. «Nichts ist schlimmer, als nicht zu wissen, was dem eigenen Kind fehlt.»

Umso intensiver muss man leben

Heute besucht Iolani das Therapiezentrum in Münchenstein, wo sie sehr gut aufgehoben sei, so die Mutter, die zu 70 Prozent als Erwachsenenbildnerin arbeitet und bezüglich Betreuungsarbeit stark auf ihre Eltern angewiesen ist. Zusätzliche Förderstunden müsse sie privat bezahlen. In ihrer Freizeit schaue Iolani gerne Dokumentarfilme, spiele mit ihren Freundinnen Zoé, Julia und Kiana Tischtennis, Federball und Basketball oder gehe schwimmen und Tennisspielen.

Letztes Jahr waren Mutter und Tochter zum ersten Mal überhaupt alleine in den Ferien. «Und wenn alles klappt, reisen wir dieses Jahr mit Freunden in die USA», sagt Blouin. Kein übermässiges Risiko? Sie schüttelt den Kopf und sagt: «Je weniger Zeit man zur Verfügung hat, desto intensiver muss man leben. Da bleibt keine Zeit für übertriebene Sorgen.» Ihr Wunsch für die Zukunft: Unterstützungsgelder für die Erforschung der Krankheit ihrer Tochter generieren und die finanzielle Situation so richten können, dass genügend Zeit bleibt, die sie mit Iolani verbringen kann.