Gastkommentar
Worte wie zu grosse Anzüge: Wieso sich politisch korrekte Sprache (noch) nicht für Literatur eignet

Genderstern und People of Color: Damit neue Begrifflichkeiten romantauglich werden, muss die Aufklärung dringend über den Gebrauch von Fachsprache hinaus vorangetrieben werden, schreibt der Autor Martin R. Dean.

Martin R. Dean
Martin R. Dean
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Die Proteste nach dem Tod von George Floyd lösten weltweit eine Sensibilisierung auf umsichtigere Sprache aus.

Die Proteste nach dem Tod von George Floyd lösten weltweit eine Sensibilisierung auf umsichtigere Sprache aus.

Keystone

Hier soll nicht von «Cancel Culture» oder der umstrittenen Äusserung von Adolf Muschg die Rede sein, sondern von dem, was sich seit dem Sommer 2020, seit dem Tod von George Floyd, scheinbar unaufhaltsam vor uns vollzieht. Ein veränderter Sprachgebrauch soll ein Umdenken befördern, Aufklärung, also der alte Kant’sche «Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit», verlangt uns mehr Aufmerksamkeit beim sprach­lichen Handeln ab. Seit die «Black Lives Matter»-Bewegung auch in unserer schwarzen Gemeinde Stimme und Echo gefunden hat, werden in unserem Wortschatz die Spuren von offenem wie verborgenem Rassismus freigelegt.

Hitzig verlief die Diskussion über das N-Wort ebenso wie über das Schaumgebäck, das an der Basler Herbstmesse liebevoll «Beggeschmutz» heisst. Trotzdem beharren einige immer noch darauf, weiterhin so reden zu dürfen, wie ihnen der «Schnabel gewachsen» ist, selbst wenn sie damit andere verletzen. Oben habe ich von der «schwarzen Gemeinde» geschrieben. Das war inkorrekt, denn es befanden sich an den Demos in den Schweizer Städten auch viele weisse Menschen und solche tamilischer, kosovarischer, türkischer oder anderer Herkunft.

Korrekt wäre also die Grossschreibung des Wortes «Schwarz» gewesen, da es alle ethnischen Schattierungen umfasst. So hat sich für «Farbige» der Begriff POC (Person oder People of Color) durchgesetzt, denn «Farbiger» stammt aus dem Wortschatz der Kolonialisten und suggeriert, dass «weiss» die Norm und alles andere eine Abweichung ist. Das dahinter liegende Konzept der «Hautfarbe» entspricht einer rassistischen Praxis des Kolonialismus. Als biologische Kategorien sind «Hautfarben» sowieso Unsinn.

Einiges am neuen Sprachgebrauch bleibt gewöhnungsbedürftig und setzt antikoloniales Grundwissen voraus. Denn die Spuren der Kolonialgeschichte und des Sklavenhandels haben sich tief in unverdächtige Wörter eingegraben. Bezeichnet man jemanden statt als «farbig» oder «dunkelhäutig» als «rassifiziert», verweist man zwar auf die Konstruiertheit des Rasse-Begriffs, aber straft ihn mit der Hässlichkeit des Wortes gleich nochmals ab.

Als Schweizer Schriftsteller mit einer vielfachen Migrationsgeschichte kann ich mich zwar auch «Schwarz» nennen, selbst wenn an mir nichts Afrikanisches ist. «POC», das sich gerade durchzusetzen scheint, ist ein brauchbarer politischer Begriff, aber er gibt zur Selbstbeschreibung wenig her. Abgesehen davon erinnert er mich an den Zivilschutz mit seiner Abkürzungsmanie, und er ist englisch.

Schriftsteller Martin R. DeanSein letzter Roman, «Warum wir zusammen sind», erschien 2019.

Schriftsteller Martin R. Dean
Sein letzter Roman, «Warum wir zusammen sind», erschien 2019.

zvg

Wie soll man Schwarze Menschen bezeichnen, wenn sie nicht schwarz sind? Das grossgeschriebene Schwarz ist nämlich auch eine Unterstellung und gleichzeitig eine Verallgemeinerung. Es ist, wie Maria Sibylle Lotter in der «Zeit» schrieb, eine Begriffsblähung. Und davon gibt es einige. Vielem, was früher Kränkung hiess, wird heute der Name «Trauma» gegeben. Der Begriff «Mikroaggression» umfasst Herabsetzung als Akt struktureller Gewalt ebenso wie eine blosse Unhöflichkeit oder Gedankenlosigkeit. Erst solche Begriffe heben das Unrecht und das Verletzungspotenzial von weissen Menschen gegenüber Schwarzen ans Licht. Werden sie aber überdehnt, verhindern sie die Verständigung. Wenn ein Rassist im Zug nervt, löst er damit nicht unbedingt ein Trauma aus.

Die Zeit wird zeigen, welche dieser Neuerungen, die wie Eisbrecher auf unser Bewusstsein wirken, sich durchsetzen werden. Sie sind dringend nötig, um verkrustetes Denken aufzubrechen. Aber vielleicht folgen ihnen fantasievollere nach. Solange Wörter aber mehr einer Fach- als der Umgangssprache angehören, sind sie auch für mich als Schriftsteller nur bedingt brauchbar. Gerade heute, wo der Anteil nichtweisser Menschen auch in der Schweiz unübersehbar ist, bedürfte es einer Sprache, die das auch abbildet. Aber Begriffe, die den Figuren schlecht sitzen wie zu gross geschneiderte Anzüge, taugen nicht.

Ahnungslos verwendete Max Frisch noch das N-Wort in seinen Tage­büchern. Dürrenmatt bezeichnet in seinem Drama «Die Physiker» einen Boxer ungeniert mit dem N-Wort. Diese Unschuld ist uns Schreibenden heute nicht mehr gegeben. Literatur muss zuweilen untertreiben, um sich behutsam, genau und beschreibend einem Phänomen zu nähern. Sie ist das Gegenteil vom Sprechen in Grossbuchstaben.

Figurenbeschreibungen im Roman sollten so individualisiert, genau und massgeschneidert sein, dass der oder die Lesende sich einfühlen können. Eine «dekolonisierte» Sprache wird der Literatur zum Gebrauch erst möglich sein, wenn sie im Alltag angekommen ist. Denn die Sprache der Literatur stellt auf die Umgangssprache und nicht auf ein Fach­idiom ab. Zwar kann sie sich durch dieses bereichern lassen, aber ohne die Kraft der gesprochenen Sprache bleibt sie papieren. Damit die neue Begrifflichkeit romantauglich wird, muss die Aufklärung dringend über den Sprachgebrauch hinaus vorangetrieben werden.